Friedrich Christian Delius, FCD

Aras Ören

Aras Ören 80

„Ein verrückter Wind eines Tages/ wirbelte den Schnurrbart eines Türken,/ und der Türke rannte hinter seinem Schnurrbart/ her und fand sich in der Naunynstraße.“

Diese vier Zeilen auf den ersten Seiten eines Poems, sie wirbelten einen damals noch so genannten Gastarbeiter Niyazi Gümüscilic in die Poesie, dessen Erfinder Aras Ören in seinen ersten Verlag und in die deutsche Literaturlandschaft.

Ich seh ihn genau vor mir, den großen, starken, gut dreißigjährigen Mann mit dem Schnurrbart und den „Koteletten bis unter die Ohren“ wie Niyazi, mit seinem und meinem Freund Johannes Schenk, beide aus Kreuzberg in die Jenaer Straße in Wilmersdorf in den Verlag Klaus Wagenbach gekommen, um dem Lektor Delius ein vielfach korrigiertes Manuskript anzubieten, „Was will Niyazi in der Naunynstraße“. Ein Poem? Diese Form war auch einem studierten Vielleser nicht vertraut. Doch die vier wirbelnden Zeilen und die weitere Beschreibung der Anfänge des türkischen Lebens in Kreuzberg waren stark genug, um den skeptischen Lektor zu überzeugen, denn auch der Stil war von einem frischen, lyrisch erzählenden, einem „verrückten Wind“ getragen. Wer so loslegt, voll Poesie und Schwung und Witz, der hat noch mehr drauf: eine neue literarische Perspektive, den überraschenden poetisch-präzisen Blick eines Türken aus der bis dahin schweigenden Mehrheit der ersten Generation der Gastarbeiter auf Berliner und deutsche Realitäten, multiperspektivisch, klassenkämpferisch getönt und doch tagträumerisch, mit bunt gemischtem Personal. Nicht Schablonen traten hier auf, wie es in der damaligen Arbeiterliteratur üblich war, sondern Individuen mit all ihren Schwächen, Illusionen, Sehnsüchten: Türken und Deutsche, türkische Frauen und deutsche Witwen, Arbeiterinnen, Arbeiter und Arbeitslose, Schläger, Gewerkschafter, Messerstecher, Schlitzohren, Säufer, Anpasser und beste Freunde, alle auf wirbelnden Zeilen versammelt, mal nebeneinander, mal gegeneinander, mal miteinander, ohne Multi-Kulti-Folklore. Dazwischen die Brücken der Erinnerungen von Berlin nach Istanbul und Anatolien und unter dem Pflaster und hinter den Fassaden Kreuzbergs die Schichten der deutschen Geschichte. Der Bosporus und der Mariannenplatz, vereint im Gedicht.

An der Übersetzung musste noch viel getan werden, das Buch erschien dann im Herbst 1973 im ersten Programm des neuen Rotbuch Verlags, dem Verlag der ehemaligen Wagenbach-Mitarbeiter, als literarischer Titel Nummer 1, u.a. neben Peter Schneiders „Lenz“. Und wurde das, was man heute einen Bestseller und einen Klassiker nennt und was Ludwig Fels damals schon in einer Rezension einen „geheimen Bestseller“ nannte: „Wer diesen Band liest, für den wird nichts mehr beim alten bleiben“.
Mit diesem Poem, das mit den folgenden „Der kurze Traum aus Kagithane“ und „Die Fremde ist auch ein Haus“ zur Berlin-Trilogie wuchs, und einem Dutzend weiterer übersetzter Bücher, Romane, Erzählungen, Gedichte hatte Aras Ören jahrelang ein Alleinstellungsmerkmal. Als 1995 der Roman „Berlin Savignyplatz“ erschien, ein melancholisch-ironischer Blick auf türkische und deutsche Westberliner, für die sich nach dem Mauerfall das Leben von einem Tag auf den andern geändert hatte, war Ören bereits zum Erzvater der türkisch-deutschen oder deutsch-türkischen Autoren, ja der deutschsprachigen Migrantenliteratur geworden.

Er hatte als erster den Mut, die Immigration, die neuen Nachbarschaften und die Reibungen extrem verschiedener Erfahrungswelten zu thematiseren. Aber auch die Kühnheit, die orientalischen Formen der Poesie mit westlicher Lakonik und Sachlichkeit zu verbinden. Seine erzählende Lyrik, teils in der Tradition von Nazim Hikmet, war die erste Kunstform, die „den Türken“ Gesichter gab (noch vor Faßbinders „Angst essen Seele auf“). Gerade in unsern heutigen Aufgeregtheiten wäre zu würdigen, wie einer hier mit scharfem, sehr menschlichen Blick auf seine Zeitgenossen schaute, ohne zu beschönigen, ohne zu romantisieren oder zu dramatisieren.

So ist Ören für die Autorinnen und Autoren der zweiten und dritten Generation von Einwanderern zum Vorreiter, vielleicht auch zum Vorbild geworden – aus gutem Grund wurde er 1985 der erste Preisträger des angesehenen Adelbert-von-Chamisso-Preises, der eigentlich für deutsch schreibende Einwanderer vergeben und dennoch ihm zuteil wurde, obwohl er stets bei der türkischen Sprache geblieben ist. Nachdem lange Jahre nichts von ihm auf Deutsch erschienen ist, hat der Verbrecher Verlag seit kurzem ein Lesebuch „Wir neuen Europäer“ herausgebracht und legt nun die Berlin-Trilogie wieder auf. Auch wenn Ören derzeit nicht im Rampenlicht steht und die Enkel noch ungern über die Verdienste der Großväter sprechen, seine Bedeutung für die Literatur der Immigranten ist nicht zu unterschätzen.

Viel zu selten wird bemerkt, welch kluger politischer Kopf Aras Ören seit Anfang der siebziger Jahre war. Er hat früh entdeckt und den Deutschen wie den Türken begreiflich zu machen versucht, dass keine Gastarbeiter kamen, sondern Einwanderer. Und dass diese Veränderung auch Deutschland verändern werde, das sich beharrlich weigerte, die Realitäten wahrzunehmen, Integration zu definieren, zu diskutieren und zu erleichtern. „Es müssen eine neue Kultur und eine neue Identität entstehen“, sagte er. „Wer in einer Metropole leben will, soll mit der Zeit zum Großstadtmenschen, zum Citoyen werden. Das hat nicht nur etwas mit Sprache zu tun, sondern mit einer weltoffenen, eigenständigen Geisteshaltung. Was nützt einer Metropole ein ewiger Untertan.“ Diese Haltung hat er viele Jahre auch als Redakteur, später als Leiter der türkischen Redaktion beim SFB mit Nachdruck vertreten – angefeindet von türkischen und deutschen Nationalisten ebenso wie von deutschen und türkischen Multi-Kulti-Softies, bis der Sendeplatz von einem törichten Rundfunkrat gestrichen wurde. Hätte man auf Aras Ören gehört statt auf Helmut Kohl („Deutschland ist kein Einwanderungsland!“), stünde unser Land heute wesentlich besser da.

Ein Salut dem nun 80jährigen Brückenbauer, dem hellsichtigen Melancholiker, dem preußischen Langstreckenschwimmer! Und beim Rotwein nenne ich ihn den am besten türkisch sprechenden Berliner Schriftsteller.

(Der Tagesspiegel, 1. 11. 2019)

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