Friedrich Christian Delius, FCD

Wunschzettel zum Geburtstag der Bundesrepublik

Wunschzettel zum Geburtstag der Bundesrepublik

Warum die deutsche Nation nach fünfzig Jahren Demokratie der künftigen Berliner Republik zum Einzug ein Geschenk machen sollte

Seit dem 27. September 1998 scheint es leichter als vordem, über die Berliner Republik zu sprechen. Mit dem abruptem Ende des Kohlschen Wilhelminismus lichtet sich einiger Nebel um diesem Begriff, der gestern noch modisch war und heute wegweisend wirkt. Der Umzug in die neue alte Hauptstadt wird begleitet von der Aussicht auf einen rot-grünen aufgeklärten Pragmatismus. Schon beobachtet man allenthalben eine neue Leichtigkeit, eine geradezu undeutsche Gelassenheit und heitere Nüchternheit in den Köpfen der Politik.
Seit dem 2. Oktober gilt alle Berlinische Neugier der debis-Welt am Potsdamer Platz, und ich erinnere an die schöne Pointe: Daimler hat seine Hochhäuser an dieser Stelle, das hat man längst vergessen, dem rot-grünen Senat zu verdanken. Vor rund zehn Jahren wurde das Grundstück für wenige Millionen fast verschenkt, die Grün-Alternativen aber wollten mehr Geld von dem Konzern. Was für ein archetypischer Streit war das, als die Grünen unter Führung der Tochter Albert Speers gegen Daimler unter Führung des Emigranten-Sohnes und SPD-Freundes Reuter um den Preis für den noch von der Mauer begrenzten Potsdamer Platz kämpften!
Trotz der fertigen debis-Fassaden wird die Info-Box der Ort bleiben, wo die Hauptstadt, wo die Republik in ihre Zukunft schauen darf. In dem eleganten, frechroten Container über dem Potsdamer Platz haben sich seit 1995 mehr als 5 Millionen Touristen und Berliner über die laufenden Bauvorhaben informiert. Modelle, Erklärungen, Computersimulationen, Schautafeln, beste Absichten. Der provisorische Stahlkasten ist zum Mittelpunkt einer Stadt geworden, die ihre Mitte sucht.
Mitten drin steht eine Sound Box, eine gläserne Kabine, in der man auf Knopfdruck verschiedene Geräusche abrufen kann. Eine Taste ist beschriftet: 2035? Man hört eine Roboterstimme, welche die Ankunft eines Spacetrain ansagt, dazu Technoakte, jaulende Piepstöne. Die menschliche Stimme ist wegrationalisiert, science fiction-Abklatsch im Berliner Zentrum.
Ich geb’ es zu, ich mag die Banalität solcher mythischen Orte: Wo einst die Mauer trennte, wächst nun triumphal das Neue, eine hektische Vereinigung aus Stahlbeton, Glas, Klinker und Glasfaserkabeln. Doch je mehr gebaut wird, desto größer die Rätsel: Was ist das Neue, das die einen feiern und die anderen fürchten? Der frische Glanz belebt die alte Sphinx Berlin.
Im Jahre 2035 nur Glashäuser und Roboterstimmen? Das kann nicht alles sein, denke ich, oben auf der Aussichtsplattform der Box. Kann eine Stadt, in der orthodoxe Juden mitten auf dem Kurfürstendamm angepöbelt werden, eine Stadt, die nicht einmal mit dem Problem der Hundescheiße fertig wird und die es zuläßt, daß ein einziger CDU-Husar eine ganze Große Koalition am Gängelband hält, keine eine solche, überdies politisch geteilte Stadt zum Zentrum einer modernen Republik werden?
Ja, sie wird es. Weil sie es schon ist: mittenmang in allen Widersprüchen.
Es sieht so aus, als läge die positive Antwort für Berlin und die Zukunft der Republik in der Weite des Horizonts vom Potsdamer Platz: zwischen pompösen, bunkerhaften, unwirtlichen debis-Bauten und dem offenen Sony-Gelände, zwischen dem Kulturforum, der fernen Glaskuppel des Reichtags, den Tunnelschächten, dem Tiergarten und dem Brachgelände für das Holocaust-Mahnmal.
Hier haben wir ein Forum Germanicum, ein durchaus lebendiges, wo Trümmer und Bauten deutscher Geschichte dichter als anderswo beieinanderstehen. Auch wenn der Führerbunker zugeschüttet, die Mauer bis auf einen Vorzeigerest, der bald verschwinden wird, unsichtbar geworden ist, es bleiben einige runderneuerte Stücke aus der Vergangenheit, die nun in die neue Bundesherrlichkeit eingegliedert werden: Reste des preußischen Klassizismus, des Kaiserreichs, der Nazizeit, der DDR und des amerikanischen Berlins. 1791, 1871, 1919, 1933, 1945, 1961, 1989 – alles da. (Wie feige wäre es, das sieht man schon jetzt, den Eisenman’schen Holocaust-Friedhof – oder einen provozierenden Ersatz – südlich vom Brandenburger Tor aus diesem Ensemble zu tilgen.)
Was hat der Kreuzpunkt der deutschen Geschichte mit den Roboterstimmen des Jahres 2035 zu tun? Eine ganze Menge. Elektronik, Digitalisierung, Mechanisierung werden die künftige Republik stärker bestimmen als preußische oder nationalistische Traditionen. (Nebenbei: Keine deutsche Stadt ist internationaler als Berlin, darum hat der Nationalismus hier kaum Chancen. Und die Berliner Türken werden vielleicht die letzten Preußen sein.)
Man wird fragen, was die sichtbaren Symbole der Historie zu bieten haben gegen die multimediale Botschaft der Info Box: Die Vergangenheit war schlecht und mit Geschichte belastet, die Zukunft wird gut, schön, schick – langweilig. Shopping, Dienstleistung, Kultur, that’s it. Geschichte wird gelöscht – oder in Form eines Mauerstücks in die Bibliothek des Bundestages eingebaut. Die Schlüsselworte heißen: interaktiv, innovativ, informativ.
Stellvertretend für die Berliner Republik ist das Forum Germanicum samt Potsdamer Platz und Info Box ein Scheidepunkt geworden, an dem nicht nur der computergesteuerte Optimismus und er historiengestützte Pessimismus aufeinanderprallen. Auch rechtsliberal oder linksliberal gefärbte Kritiker, die überall Verfall, Elend, Überdruß, Immobilismus wittern, finden hier reichlich Stoff für ihre Meinungsbildung.
Ich habe nichts dagegen, aber ich merke: Meinungen langweilen mich. Besonders dann, wenn sie auf deutsche Art präsentiert werden: ironiearm, mit hämischen Zeigefingern, mit Klagen über das Wehklagen, mit alten oder neuen Schubladenzuordnungen und dem, was alle Gegner eint, die sich auf dem Meinungsmarkt tummeln, dem Lagerdenken.

Warum sollten wir dem Staat nicht einige Geschenke machen?

Rund 25 Jahre habe ich in Berlin mit der und gegen die Mauer gelebt, und ich freue mich immer noch, wenn ich die Mauergegenden ohne Mauer sehe. Warum, überlege ich, den Blick halb nach Osten gewandt, warum starren so viele Deutschen, einschließlich mancher klugen Essayisten in der ZEIT, so ängstlich und in vorauseilendem Nörgeln auf das, was sich demnächst unter diesen Baukränen, hinter diesen Fassaden, unter diesen Dächern einrichten wird? Ist die Kohl-Ära der Grund, weshalb wir vorsichtshalber immer das Schlimmste erwarten, oder wenigstens: schlecht bedient zu werden? Können wir noch umgekehrt denken?
Warum sollten wir, die Deutschen, diesem deutschen Staat nicht ein paar Geschenke machen dürfen?
Die Wahl und die ihr folgende Schwungkraft, die vielleicht noch einige Zeit anhält, war schon ein solches Geschenk. Aber es gibt einige Gründe und Präsente mehr zu verzeichnen.
Die Republik wird 50, das ist ein respektables Alter, das eine ausgiebige Feier verdient. Wer 50 wird, ist im allgemeinen ganz gut bei Kräften, hat einiges erreicht und darf doch noch hübsche Hoffnungen auf sich lenken. Und warum soll man nicht eine 50jährige Republik beschenken, mit der man es bei allem Streit und Krampf doch leidlich gut gehabt hat?
Dazu kommt der unbequeme, notwenige und teure Umzug – auch das ist für anständige Nachbarn ein Grund, wenigstens mit etwas Brot, Salz und Wein auf der Matte zustehen.
Ein dritter Anlaß, über Geschenke nachzudenken, ist die Erweiterung eines Ehevertrages. Die Gütertrennung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Europa ist abgeschafft, mit dem Euro wird die Phase der Gütergemeinschaft zwischen den Partnern besiegelt.
All das wird 1999 geschehen, Euro, Umzug, 50. Geburtstag, und es wäre sträflich, diese nur mit den üblichen Blumenkübeln, Reden, Phrasen, Fahnenflattern, Fernsehshows, Festumzügen, Essays, multiregionalen Bratwürsten und multinationalen Reispfannen abzufeiern.
Auf dem Metallgitter in der Luft über dem Potsdamer Platz belausche und beobachte ich die Leute um mich herum, ihre Neugier, ihre Skepsis, ihre Bewunderung. Ich vermute: Sie warten auf ein Zeichen, ein Signal, sie warten auf einen neuen Anstoß, nicht nur aus den Berliner Neubauten. Sie haben mit der Bundestagswahl ihre demokratische Reife gezeigt, sie haben wenig Angst vor der Zukunft. Keiner will zurück ins Wilhelminische, nur ein paar junge Schwachköpfe träumen vom Naziland, DDR-Nostalgiker werden aussterben – rund neunzig Prozent der Deutschen, Umfragen bestätigen es, wollen die Demokratie, um so mehr, wenn sie die Kraft zu Frische und Reformfähigkeit zeigt. Sie möchten mehr arbeiten und wählen. Sie hätten nichts dagegen, dafür etwas zu tun (das Echo auf die “Ruck”-Rede des Bundespräsidenten belegt es), sie wissen nur nicht: Wo anfangen in all der Unübersichtlichkeit, dem Raffen und Gaffen?
Also, irre ich mich, oder gibt es genügend Leute, auch einflußreiche, die der verbreiteten Selbstbedienungs- und Plünderungsmentalität zumindest zeitweise widerstehen können? Vielleicht ist da sogar eine Mehrheit, die kein Interesse hat, daß die Republik weiter verschuldet und erschlafft, orientierungslos und handlungsarm dahindümpelt, durch eigenen Reichtum und Mangel an Zivilcourage verwahrlost und sich mit ihren eigenen Gesetzen und Verordnungen stranguliert. Warum mit all diesen Leuten nicht einmal phantasieren: Wie beschenkt man eine reiche, 50jährige, vom Umzug, von der Vereinigung und der grenzenlosen Weltökonomie etwas gestreßte Republik?
Ein Wunschzettel gefällig?
Anfangen könnten die Ämter. Alle Ministerien, Verwaltungen und sonstigen Behörden des Bundes, der Städte, der Länder und Gemeinden mögen sich verpflichten oder von ihren Chefs verpflichtet werden, ab 1999 zehn Prozent ihrer Dienstvorschriften, Verordnungen und Durchführungsbestimmungen abzuschaffen. In den folgenden drei Jahren weitere fünf Prozent (oder besser: zehn Prozent) der verbleibenden Menge von Vorschriften. Die allseits beklagte hohe Regulierungsdichte ist ja nicht nur ein Investitionshindernis, sondern blockiert auch Produktivität und Motivation und stiftet subversiv und nachhaltig zur allgemeinen Staatsverdrossenheit an. Da die Ratspräsidentschaft der EU im kommenden Halbjahr an Deutschland fällt, müßte solch eine Gabe auch für Brüssel zur Lektion werden. Bei allem Verständnis für Gemütlichkeit: die Beamten könnten dem Staat kein schöneres Geschenk machen, als ihn zu entbürokratisieren.
Das nächste große Geschenk darf von den Banken erhofft werden: zehn Prozent Schuldenerlaß für Bund, Länder und Gemeinden! Der Schuldenstand liegt bei 2190 Milliarden Mark (1997), Tendenz steigend. Die Banken haben, das kann man ihnen nicht vorwerfen, von den Fehlern der Politik profitiert, nicht nur die gigantischen Zinseinnahmen. Doch ihr Hyperreichtum wird, wie Fachleute vorrechnen, immer mehr zu einem Risikofaktor für die Weltwirtschaft. Die Republik zu beschenken, die unsere Banken so mächtig hat werden lassen, wäre nicht nur ein Akt der Höflichkeit und des Respekts, sondern auch im eigenen ökonomischen Interesse. 219 Milliarden Mark in einem Jahr weniger – erlassen, abgeschrieben – , das hört sich gewaltig an, aber de facto würde niemand ärmer werden. (Man verzichte bitte auf die Ausrede, alles Geld gehöre den Kunden.) Auch nicht, wenn von der verbliebenen Schuldensumme in den folgenden drei Jahren jeweils weitere fünf oder zehn Prozent als Verlust verbucht würden. Image- und Glaubwürdigkeitsgewinn plus Konjunkturbelebung wären auf Dauer profitabler als ein Moratorium in ein paar Jahren. Und welch ein Aufatmen beim Lockern des Schuldenstricks!
Und zu welchen Präsenten könnte sich die tüchtige, weltberühmte deutsche Industrie entschließen? Beim Blick hinüber auf das eng geschachtelte, düstere, kleinmütige debis-Areal kann ich nicht ganz verdrängen, daß die Firma, die hier bauen läßt, dank satter “Verlustvorträge” in Deutschland so gut wie keine Steuern zahlt. Daimler-Benz befindet sich da in bester Gesellschaft, die meisten Konzerne und größeren Firmen, europaweit und weltweit verflochten, sparen inzwischen in Deutschland mehr Steuern als in den schönsten Steueroasen. Die Globalisierung ist nicht zu umgehen und gleichzeitig zur Ausrede dafür geworden, den Finanzämtern des Landes, das die Expansion ermöglicht und gefördert hat, leere Taschen vorzutäuschen.
Es ist nur ein bescheidenes Geschenk, das ich der gebeutelten Industrie vorschlage: mindestens zehn Prozent der Summe, die ohne Bilanztricks und ohne Gewinnverschub in Deutschland zu entrichten wäre. Diese Gelder, auch das ein Wunschzettel-Wunsch, sollten ausschließlich an Schulen und Universitäten fließen – wenn gleichzeitig die verantwortlichen Bildungspolitiker an ihrem Geschenk arbeiten, das Bildungssystem gründlich im Hentigschen Sinne zu reformieren.
Und was sagt das gläserne Straußenei auf dem Reichstag den frisch gewählten Politikern? Nein, mit einem 10-Prozent-Geschenk ist es nicht getan – obwohl die eine oder andere Verzichtsgeste nicht schaden würde. Können sie nicht, wenn sie schon von der Ökonomie und der EU degradiert werden, die Grundrechte (wieder) zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Arbeit machen? Und nebenbei effektiver werden durch eine deutliche Entkoppelung vom Lobbysystem? Also: zehn Prozent weniger Lobbyistengespräche. Abgeordnete, die neben oder hauptberuflich für Firmen, Verbände und Gewerkschaften tätig sind, könnten der Republik kein besseres Geschenk machen, als ihr Mandat niederzulegen. Keine Sorge, hier will sich niemand in die Regierungserklärung einmischen. Doch ich hätte nichts dagegen, wenn phantasievollen Leserinnen und Lesern weitere Geschenk-Vorschläge einfielen. Nur ein Prinzip soll für alle Wunschzettel gelten:
Alles freiwillig, bitte schön. Kein verordneter “Solidaritätszuschlag” für Solipsisten. Nur freiwilliges Handeln zeigt, wieviel uns die Republik und die Freiheit wirklich wert sind. Nur so könnte die Geschenkidee wirken, Mode werden, anstecken. Oder muß man erst eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung aufstellen, um auch dem letzten Dax-fixierten, männlichen Milchmädchen zu beweisen, daß solche Geschenke, selbst wenn sie manchem Geber weh tun, niemanden nennenswert ärmer machen?

Die Reichen und Mächtigen sollten leuchtende Vorbilder sein

Gäbe es bessere Mittel, den Menschen in den neuen Bundesländern zu zeigen, wie ernst es den Demokraten mit der Demokratie ist? Wie dankbar die Gewinner der Einheit sein können? Gäbe es bessere Mittel, die Berliner Republik zu einer wirklichen Bundesrepublik zu machen? Besseres für eine Entschlackungskur? Für die Zivilisierung der Gesellschaft? Für wirtschaftlichen Aufschwung? Für einen neuen Anfang, freiheitlich und weltoffen?
Die Geburtstagsgeschenk-Kampagne kann freilich nur gelingen, wenn die Reichsten und die Mächtigsten anfangen und leuchtende Vorbilder abgeben. Wenn die wohlhabendere Hälfte der Bevölkerung mitzieht und alle, die bei Kräften sind, über eigene Geburtstagsgeschenke nachdenken. Vielleicht kommen dann ganz am Ende sogar ein paar Arbeitslose mehr zum Spargelstechen.
So viel Patriotismus, Herr Delius? So viel Naivität? Ich weiß, ich mache es den Alleswissern und Hämebubis leicht. Aber sie unterschätzen, wie immer, meine Ironie. Und während sie mir beweisen, daß eine Nimmgesellschaft unmöglich in eine Gibgesellschaft verwandelt werden kann, nicht mal für ein bis vier Jahre, nicht mal mit einem neuen Kennedy (“Frag nicht, was Amerika für dich tut. Frage, was tust du für Amerika”), sitze ich einer Wilmersdorfer Sushi-Bar, die Russen gehört. Die Stimme der russischen Kellnerin, die das japanische Futter serviert, klingt fast wie die Roboterstimme aus der Sound Box.

(Die Zeit, 29.10.1998)

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