Friedrich Christian Delius, FCD

Globale Nahrung von der Kurischen Nehrung

Globale Nahrung von der Kurischen Nehrung

„Ist ganz gut, die Grenze, so haben alle ein bisschen“, sagte das junge Mädchen schüchtern in die Kamera. Eine Litauerin, die in einem Bernsteingeschäft in Nidden auf der Kurischen Nehrung arbeitet, wurde von dem deutschen Regisseur Volker Koepp befragt, was sie von der russisch-litauischen Grenze halte, welche die Nehrung teilt. Der fast hundert Kilometer lange und bis zu vier Kilometer breite Dünenstreifen zwischen Königsberg/Kaliningrad und Memel/Klaipeda wurde 1920 durchschnitten, der Süden gehörte zum Deutsche Reich, der Norden zu Litauen. Von 1945 bis 1990 war das ganze Gebiet Teil der Sowjetunion, seit deren Auflösung sind hier Welten getrennt: Während der Aufschwung Litauens und die westlichen Investitionen nicht zu übersehen sind, regiert in der benachbarten russischen Enklave Kaliningrad stagnierendes Elend.„Ist ganz gut, die Grenze, so haben alle ein bisschen“ – der Satz fiel erst, nachdem der Regisseur dreimal gefragt hatte, ob die Grenze mitten auf der Nehrung nicht „komisch“ sei. Mit ihrer verlegenen und ein wenig trotzigen Antwort widerstand die Litauerin dem Deutschen, der offenbar, weil die Grenzen in seinem Land gefallen sind, nun jeden Schlagbaum als Hindernis oder Groteske oder als überflüssig ansieht.
In einem Kino im ungeteilten Berlin sitzend, rührte mich dieser Satz aus Koepps Film „Kurische Nehrung“. Nicht nur, weil ich wenige Monate zuvor selbst dort oben zwischen Ostsee und Kurischem Haff gewesen war, die augenfälligsten Unterschiede gesehen, die Landschaft bewundert und die Ausdauer der Leute bestaunt hatte. Bemerkenswert schien mir in dieser Formulierung die bescheidene Großzügigkeit, die stille Menschenfreundlichkeit und die diffuse Angst: Wenn die Nehrung ganz litauisch oder ganz russisch wäre, dann wären zu viele Menschen, die einen oder die andern, benachteiligt. Die Abschaffung der Grenze würde nur zu neuen Ungerechtigkeiten führen, zu Streit und Kampf. Der Satz der jungen Frau aus Nidden schlug einige Volten im Kopf und wurde plötzlich zu einer Metapher für die Notwendigkeit, Grenzen zu ziehen und zu respektieren mit aller Deutlichkeit und Freundlichkeit. Eine banale Sache, könnte man einwenden, aber doch eine, die uns täglich in Konflikte bringt: wer geht wann und wo und warum zu weit, wer zieht, wer verletzt welche Grenzen, wann sollte welches Tabu gebrochen werden? Und als ich das Kino verließ, erinnerte mich der litauische Satz mitten in Berlin an die Bilder aus Genua, an die neu angefachten Globalisierungsdebatten. Auch das sind Grenzdebatten, nicht allein die Polemik um die Gewalt und die Frage, ob es im demokratischen Europa eine faschistisch ideologisierte Polizei gibt. Das Problem dahinter wird uns noch lange beschäftigen und belästigen: die Grenzen von Markt und Wohlstand und die globale Nahrung. Ich wäre gespannt, was die Litauerin von der Kurischen Nehrung dazu zu sagen hätte.
In der Epoche der „Globalisierung“ – der verwaschene Begriff wird nicht helfen, den alten Konflikt zwischen Ökonomie und Moral vergessen zu lassen – haben Grenzen keinen guten Ruf. Die triviale Tatsache, dass man, nicht nur aus pädagogischen Gründen, immer wieder Grenzen ziehen muss, ist nicht besonders populär. Im marktwirtschaftlichen und medialen Denken gelten Grenzen als altmodisch, überflüssig, „komisch“. Auf den Fahrten in die meisten unserer Nachbarländer, selbst oben auf dem Brenner, müssen wir nicht mehr anhalten, nicht einmal zu einer Gedenksekunde des Respekts vor den liebenswerten kleinen nationalen Unterschieden. Wir weiden uns am Privatleben der Politiker, wir haben die frischen Euro-Scheine als Symbol unserer Freizügigkeit, wir genießen die grenzenlosen Spaziergänge durch das Wissen und Geplapper der Welt im Internet. Wo immer möglich streben wir die Abschaffung aller Grenzen an, das Ziel ist die Grenzenlosigkeit. Globales Denken, Handeln, Wirtschaften – und wir bemerken kaum den Widerspruch, dass dabei immer neue Grenzen gezogen werden. Die Staaten sorgen dafür oder „müssen“ dafür sorgen, dass die Grenzen in umgekehrter Richtung für die nichtprivilegierte Mehrheit der Menschen immer undurchdringlicher werden, dass die brüchigen Mauern um unsere Wohlstandsinseln höher und höher werden. „So haben alle ein bisschen“, diese unscheinbaren Worte aus dem Bernsteinland klingen, in diesem Licht gesehen, wie eine schöne Utopie.
Nun aber rückt in aller Welt eine protestierende Jugend vor die Kameras und sagt: Halt, so geht es nicht weiter! Die globale Wirtschaft schafft mehr Probleme als sie löst! Die Grenzenlosigkeit produziert immer härtere Grenzen! …Bis zu diesem Ausrufezeichen war ich mit dem Schreiben der Kolumne gekommen, als am 11. September aus New York und Washington ganz neue, apokalyptische Bilder von den Kameras eingefangen wurden, als Entsetzen und Trauer sich sofort mit der ängstlichen Erwartung einer großen Konfrontation mischten und, von einer Stunde auf die andere, das Wort Krieg in aller Munde war. Die Brand- und Staubwolken über den Trümmern waren noch nicht verweht, schon hatte sich das Gefühl in allen Köpfen festgesetzt, nun werde eine neue Epoche beginnen. Eine Epoche, in der nicht mehr die weltpolitischen Raster Reich/Arm und Wohlstand/Schulden, sondern Freiheit/ Terror und Härte/Schwäche bestimmend sein werden.
Du hast deine Kolumne umsonst geschrieben, dachte ich zuerst, du musst wieder ganz neu anfangen. Die Litauerin mit ihrem irritierend weisen Satz, den ich hier im PLATEAU ausstellen und aufheben wollte, wirkt sie nicht viel zu schmächtig und bescheiden in diesen härteren Zeiten? Plötzlich sind wir alle potentielle Opfer, plötzlich kann sich niemand mehr unschuldig fühlen (Derrida), plötzlich sehen wir etliche unserer Freiheiten eingeschränkt. Plötzlich liegen New York, Genua und Jerusalem an einem Ort.
Der Terror entwertet das Denken, Differenzieren und Schreiben, der Krieg ebenso. Nun muss ein gezielter Kampf gegen Terrorismus und militante Intoleranz geführt werden – und viele möchten das, seltsam euphorisch, Krieg nennen. Und nur leise erklingt der fromme Wunsch: Mit dem Kampf gegen den Terror möge nun auch die Demokratie globalisiert werden (Benjamin Barber).
„Es kommen härtere Tage“ (Ingeborg Bachmann in den Zeiten des Kalten Krieges). Sie werden das Denken uniformieren und simplifizieren, die Sprache entdifferenzieren und globalisieren. Die feinen Untertöne, die kritische Befragung, die lockeren Ironien und die lebensnotwendigen Ausflüge in den Humor, wird das zum Luxus von gestern?
Bei solchen Überlegungen werde ich das Gefühl nicht los, dass die junge Litauerin uns etwas voraus hat. Die Stimme der stillen Vernunft – „so haben alle ein bisschen“ – vielleicht eine kleine Dosis Utopie, eine Notration im Bernstein aus Nidden für eine härtere Zeit?

(Das Plateau 68, Dezember 2001)

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