Friedrich Christian Delius, FCD

Fußball-Millionäre in Unterhosen

Fußball-Millionäre in Unterhosen

Zu den Bildern des europäischen Fußballs, die länger als eine Saison haltbar sein werden, gehört mit Sicherheit dieses: Francesco Totti, der am meisten umschwärmte Star und Kapitän des AS Roma, steht auf dem Spielfeld fast nackt, in blendend weißen Unterhosen. Fassungslos, verlegen lachend, verschreckt und doch nicht ganz unglücklich schaut er zu seinen Mitspielern. Die meisten stehen ebenfalls mit nacktem Oberkörper da und ohne die weinroten Hosen, einige sogar ohne Schuhe, Stutzen, Strümpfe. Die entscheidende Partie gegen den AC Parma ist noch nicht zu Ende, Rom führt 3:1. Mehr als über das Ergebnis scheinen die Spieler sich zu freuen, dass sie noch am Leben sind.
Wenige Minuten zuvor, kurz nach dem dritten Tor, hatte ein Inferno begonnen, das in deutschen Stadien unvorstellbar ist und darum gerade hierzulande der lehrreichen Anschauung dienen kann. Der Sieg der Römer war endlich sicher, kaum acht Minuten bis zur lange erträumten, lange umkämpften Meisterschaft, als nach dem Pfiff eines Polizisten, der die ans Spielfeld drängenden Fans zur Ordnung rufen wollte, das größte denkbare Chaos entstand. Die Fans, die den ersten Zaun schon überwunden hatten, hielten den Pfiff für den Schlusspfiff des Schiedsrichters oder wollten ihn dafür halten und stürmten auf das Feld. Dreihundert, vierhundert junge Männer rannten über den Platz. Schwarz von Menschen der Rasen des Olympiastadions. Das Unglaubliche wurde noch unglaublicher, als sich die schnellsten dieser Fans auf die Spieler stürzten. Was als gewaltsame Umarmungen aus Freude über den Sieg begann, entwickelte sich sofort zu wilden Ringkämpfen, die Kameras zeigten es aus der Nähe: mehrere Burschen fielen über einen Spieler her und kämpften zugleich gegeneinander. In wenigen Sekunden steigerte sich alles zu simultanen Laokoon-Gruppen mit entsetzlichen Verstrickungen der Glieder, bis die Helden im Gewühl untergingen und man nur noch Haufen von tretenden, drängelnden, prügelnden Fans sah.
Wir, am Fernsehschirm, fürchteten um das Leben der Totti, Montella, Battistuta und der anderen, saßen starr vor Schrecken und glaubten sie erschlagen, totgetrampelt. Es dauerte lange, bis die Fanatiker, die potentiellen fahrlässigen Totschläger der Spieler und die Saboteure der Meisterschaft (AS Roma hätte wegen dieses Zwischenfalls disqualifiziert werden können) vom Spielfeld gedrängt werden konnten und die Helden wieder auferstanden: in Unterhosen. Sie schienen, welch ein Wunder, unverletzt. Sie zeigten sich wieder: gerettet, aber im schönen Trikot der Lächerlichkeit. Die Kameras zoomten immer wieder auf die nackten Füße des Torwarts.
Die Spieler noch während des Spiels in Lebensgefahr zu bringen, um ihnen Hosen, Hemden und Schuhe zu rauben – so weit sind wir in der Bundesliga noch nicht. Doch dieser römische Höhepunkt im Verehrungskult der Fußballgötter zeigt schon, wie das Verhältnis von Publikum und Stars sich dynamisieren wird. Der Fan, zumeist psychisch ein armer Kerl, schreit nicht nur nach Idealisierung und Identifizierung. Das war schon immer so, auch diesmal sang die Jugend Roms sich über eine Woche lang die Kehle wund mit „I campioni dell‘Italia siamo noi, siamo noi, siamo noi“. Der Fan schreit zunehmend lauter nach Sinnlichkeit, zumindest nach der Sinnlichkeit einer Reliquie, nach einem gegenständlichen Schnipsel vom Sieg, nach der erlösenden Berührung mit den Halbgöttern der Ballkunst oder wenigstens deren Gewändern. Ein Totem aus billigem Synthetikstoff reicht nicht jedem. Da der höchste Wunsch, die Berührung, Umarmung usw., nur mit viel Phantasie oder Geld (durch den teuer erkauften Eintritt in die „mixed“-Zonen) zu befriedigen ist, schlägt bei den Frustrierten die Verehrung irgendwann in die Schlachtung der Helden um.
Nein, Kahn, Effenberg, Ballack, Barbarez und Deisler müssen nicht fürchten, auf dem Rasen des einen oder anderen Olympiastadions geopfert zu werden. Das geschieht heute nach dem Fegefeuer der Dämlichkeiten der Ranschmeiß-Reporter stellvertretend auf dem Altar der Bild-Zeitung.
Je fanatischer der Fan wird, desto mehr wird man ihn vom angebeteten Star fernhalten. Deshalb sind die Trikots mit dem Namen und der Nummer des Idols so praktisch: eine Identifizierung passend auf den Leib geschnitten. Und es stört den Fan nicht, dass Hunderttausende mit dem gleichen Namen und der gleichen Nummer auf dem Rücken herumlaufen.
Am Ende steht Francesco Totti ohne Trikot an der Seitenlinie. Während mindestens 250 000 Fans, darunter 100 000 Kinder das Hemd TOTTI 10 tragen, wartet er, bis man ihn und seine Mitspieler neu einkleidet – und bis wir die grandiose Ironie dieses Vorfalls bemerken. Die kickenden Millionäre auf dem Spielfeld nackt, und die armen Schweine der Süd- oder Nordkurven schwitzen in ihren Synthetik-Trikots und Schals. Die Konsequenz der Verehrung: der Fan, wenn er von der Polizei nicht gehindert wird, killt das Spiel. Wenn endlich auch die Unterhosen nicht mehr werbefrei sein dürfen, werden sich die Spieler gegen ihre mögliche Kastration versichern lassen.
Der Reliquienglauben, der dem Fanartikel-Markt die erstaunlichsten Umsätze beschert, ist in den katholischen Fußball-Ländern Lateinamerikas und Südeuropas stärker ausgeprägt als bei uns. Mit der Reliquie wird der Heilige einerseits privatisiert, andererseits zur Ware. Mit der Privatisierung und lückenlosen Vermarktung des Fernsehfußballs (übrigens genialisch vorhergesagt von Alfred Behrens in seinem Buch aus dem Jahr 1974 „Die Fernsehliga“) beschleunigt sich die Privatisierung des passiven und des aktiven Fußballers. In Rom beispielsweise diktiert der Fernsehsender, dass die Zuschauer nur in Vereinsfarben oder mit Spielerhemden ins Stadion kommen dürfen – das gebe ein schöneres Bild. Die Stars gehören sowieso ihrer Firma und, auch das ist vertraglich geregelt, den Fans. Kein Wunder, wenn jeder meint, einen Anspruch auf Tottis oder Kahns oder Effenbergs oder Deislers Hemd zu haben.
Aber was ist mit der kindlichen, der männlichen, der weiblichen, der sportlichen Freude an den Toren, an gelungenen Kombinationen, artistischen Leistungen und verdienten oder unverdienten Siegen? Das Schöne ist, dass auch die totale Kommerzialisierung des Fußballs und die fast totale Verblödung seiner Kommentatoren (es gibt Ausnahmen, ich weiß) die Gefühle der Freude und Schadenfreude, des Neides und der Trauer nicht völlig zerstören und nicht völlig ausbeuten können.
Was treibt, um bei den drastischen römischen Beispielen zu bleiben, eine Woche nach dem Gewinn der Meisterschaft eine Million Fans zum Circo Massimo, zur größten Feier, die es je nach einem Fußballsieg gegeben hat? Ein mittelmäßiger Sänger, der die Show dominiert, eine gute Schauspielerin, die einen halben Striptease verspricht, und ein paar der siegreichen Spieler, die man von weitem sowieso nicht erkennt, das alles kann es nicht gewesen sein.„Die Leute nahmen die Meisterschaft als Anlass, sich zu freuen,“ sagte eine Römerin, „eine Gelegenheit für eine wunderbare Massen-Festa, ohne Hysterie, ohne Besäufnisse. Es war eine heitere, unaggressive Stimmung, wie ich sie zuletzt nach dem Fall der Mauer in Berlin erlebt habe.“
Auch diese Feier zeigte, wie unterentwickelt, wie stumpfbeinig und bierdumpf die deutsche Fußballkultur immer noch ist. Doch das wäre ein schönes Ziel für den Meister der Bundesliga-Saison 01/02: eine Million friedlicher Fans, die noch eine Woche nach der Entscheidung fünf Stunden lang um die Wette feiern. Es muss ja nicht gleich auf dem klassischen Boden für „Brot und Spiele“ sein. So gesehen sollte man vielleicht dem SC Freiburg, der südlichsten Bundesligamannschaft, den Titel wünschen.

Die Zeit, 2.8.2001 – unter dem Titel „Helden wie ihr“ und Stipendiaten-Katalog der Casa di Goethe, Rom 2003

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