Friedrich Christian Delius, FCD

Die Krise der Ersatzreligion

Die Krise der Ersatzreligion

Seit die so genannte Krise der Werte und Religionen sich im 20. Jahrhundert dramatisch steigerte, hatten die Deutschen, nachdem die Rassenreligion sich als Katastrophe erwiesen hatte, eine produktive Ersatzreligion gefunden. Den Glauben an die Marktwirtschaft, an Angebot und Nachfrage, an die Vernunft der Ökonomie, an das Kapital, an die Gerechtigkeit des Geldes, kurz: an den guten Kapitalismus. Mit dem religiös eingefärbten Wirtschaftswunder der fünfziger und der Sozialpolitik der sechziger Jahre wurde der Segen dieser Ökonomie offenbart, wurden ihre Dogmen sakrosankt. So schnell wie diese hat keine andere Religion die Welt erobert, und das Ende des Sozialismus 1989 wurde zum größten Gottesdienst aller Zeiten.
Heute, scheint mir, sind die Deutschen dabei, ihren Glauben zu verlieren. Man muss sich nur umhören.
Ein Unternehmensberater: Das Shareholder-value-Denken macht die Leute der Wirtschaft blind, sie sehen nur noch Zahlen, werden dabei immer ratloser, ja dümmer, auch die Spitzenkräfte. Eine Werbeexpertin: Nach dem 11. 9. gabs weniger Werbung, das änderte aber nichts an den Verkaufszahlen der Produkte, nun ist die eitle Branche gelähmt von der Ahnung, dass die Werbung im Grunde überflüssig sein könnte, eine tiefe narzisstische Kränkung. Jede Woche kann man lesen, wie die höchsten Manager die einfachsten Regeln des Wirtschaftens nicht mehr beherrschen. Die Krisen sind fast immer Folgen des Größenwahns. Ob bei Kirch oder auf dem neuen Markt, ob in der Automobil- oder Telekom- oder Energie-Branche. Subventionen beschleunigen die Arbeitslosigkeit. Nicht nur Sozialdemokraten verzweifeln, weil jede Freundlichkeit gegenüber der Wirtschaft zuerst mit der Verweigerung von Steuern, dann oft noch mit der Streichung von Arbeitsplätzen bestraft wird. Kleinaktionäre, weil man ihnen weisgemacht hat, sie dürften an die Börse glauben wie Kinder an den Osterhasen. Gleichzeitig weiß jeder Zeitungsleser, dass die Globalisierung, wie sie derzeit betrieben wird, die Gegensätze zwischen Reich und Arm, auch hierzulande, vergrößert und nicht abbaut. Und dann liest man, dass nicht einmal die Deutsche Bank trotz Milliardengewinnen und Mini-Steuerzahlungen zufrieden sein darf und brutal sparen muss, weil angeblich ihr Börsenwert zu niedrig ist. Die pragmatische Vernunft der Ökonomie – daran glaubt heute kein vernünftiger Mensch mehr.
Dazu kommt, dass die Wirtschaft den Staat unterminiert und entmachtet. Korruption und Selbstbereicherung gab es immer, aber nie so skrupellos und gigantisch wie heute. Die großen Firmen und reichen Leute zahlen fast keine Steuern mehr. Deutschland ist verglichen mit den meisten Ländern der EU ein Steuerparadies geworden. Die Banken strangulieren mit den Zinsen die öffentlichen Hände, wie es so schön heißt. Die mächtigsten Politiker, egal welcher Partei, haben keinen Spielraum mehr. Selbst ein neuer Bundeskanzler würde nichts ändern. All das hat den durchschlagenden Effekt einer Lähmung, einer Massendepression. Nach der Krise der Religionen erleben wir nun die Krise der Ersatzreligion des guten Kapitalismus, und ich habe den Eindruck, dass das den Leuten aufs Gemüt, auf die Psyche schlägt. In Deutschland mehr als anderswo, weil wir hier noch am ehesten den guten, sozial abgefederten Kapitalismus gewöhnt waren. Während die Dogmen unserer Ersatzreligion weiterhin in Sonntagsreden verkündet und in der Wirtschaftspresse gedankenlos nachgeplappert werden, hat die Depression längst die meisten deutschen Gemüter erreicht. Wer heute mit Lehrern oder Managern, mit Kleinunternehmern oder Fotografinnen, mit Putzfrauen, Beamten, Politikern, Ärzten oder Journalisten spricht – überall der Tenor: so geht es nicht weiter, aber wie geht es weiter? Die Leute bangen nicht nur, wie früher, um Arbeit, Lebensstandard, Bildung, Rente. „Die Menschen fühlen, dass ihre Stimmen nichts mehr zählen“, sagt Susan George.
Nicht das notwendige Sparen zerstört die Gesellschaft, sondern der Reichtum, der immer weniger verteilt wird. Der Glauben an die so genannten Selbstheilungskräfte der Wirtschaft schwindet, und mit ihm Leistungskraft und Selbstbewusstsein. Offen wird darüber kaum gesprochen, nicht einmal in den sonst so emsigen Feuilletons, denn die Marktwirtschaft ist kompliziert – und außerdem ein Tabu. Schon traut sich niemand mehr, das Wort Marktwirtschaft mit dem alten Attribut „sozial“ zu verbinden. Noch weniger, den Begriff zu benutzen, der die neue ökonomische Lage seit 1990 am genauesten trifft: Kapitalismus. Auch hier müssen wir offenbar wieder einmal von den Amerikanern lernen, zum Beispiel von Benjamin Barber: „Meiner Ansicht nach ist der Kapitalismus im Niedergang begriffen … Globalisierung bedeutete die Internationalisierung der Wirtschaft, aber nicht die der Demokratie. In der Welt gibt es also jetzt einen Kapitalismus ohne Demokratie, einen wilden, rohen Kapitalismus ohne Regulierung. Das unterminiert letztlich den Kapitalismus selbst … mit einem verheerenden Effekt auf die menschliche Psyche.“
Benjamin Barber ist kein Systemkritiker, er hat Präsident Clinton und Bundespräsident Herzog beraten. Vielleicht hilft er auch uns, das Unbehagen, das aus der Wirtschaft kommt, besser zu begreifen.

(DeutschlandRadio, OrtsZeit, 4.7.2002)

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