Friedrich Christian Delius, FCD

Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt

Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt – gerät in die Wirtschaftskrise.

Rede zur Verleihung des Stadtschreiber-Preises Bergen-Enkheim am 29. August 2008

Meine Damen und Herren,

jeder Preis ist ein Geschenk und eine wunderbare Überraschung. Und dieser, der Bergen-Enkheimer, ist ein ganz besonderes Geschenk, denn hier sieht man sich nicht nur von einer Jury ausgezeichnet, nicht nur von den Bergen-Enkheimer Bürgerinnen und Bürgern gefeiert, sondern auch von der Reihe der Vorgänger geadelt, der man nun, mehr oder weniger unverdient, zugesellt wird. Ich will die Namen nicht aufzählen, Sie kennen sie, aber ich muss den Namen des ersten Stadtschreibers nennen, weil er mir am meisten bedeutet, weil ich von keinem dieser vierunddreißig Vorgänger so viel gelernt habe wie von ihm, und weil ich schon vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren die Frechheit hatte, mich als sein Schüler zu bezeichnen, ich meine Wolfgang Koeppen. Er lebe hoch, der Alte! Und als Pfarrerssohn darf ich sagen: Sein Geist sei mit uns allen! Ich bedanke mich also für die Auszeichnung, für das Amt, für das Wohnrecht, für das Preisgeld und für die Aufnahme in die illustre Ahnengalerie. Ich danke Julie Zeh und Reinhard Jirgl für ihre Reden. Viele Geschenke auf einmal, ich bedanke mich herzlich und nicht zuletzt bei der Kulturgesellschaft – im wörtlichsten Sinne.

Aber wie kann ich mich erkenntlich zeigen?, habe ich überlegt. Was kann ich Ihnen bieten? Soll ich Ihnen eine schwungvolle Rede halten über große und kleine gesellschaftliche Misstände, die Sie genau so gut oder so schlecht kennen wie ich? Eine melancholische Betrachtung oder eine polemische Standpauke? Zum Thema Literatur und Politik mal wieder so richtig die intellektuelle Sau rauslassen? Soll ich Sie mit meinen Meinungen überrumpeln oder mich geschmeidig in eine aktuelle Debatte einfädeln? Nein, ich möchte es heute lieber nicht spielen, das alte Spiel vom schlauen Redner und dem ergebenen Publikum.
Wenn schon, hab ich gedacht, dann sollen Sie von mir etwas bekommen, was eine gewisse Haltbarkeit hat. Etwas, an das Sie auch morgen beim Frühstück und in einem Monat vor den Fernseh-Nachrichten und hoffentlich in einem Jahr noch denken können. Ich habe also Ihnen, Ihnen allen, etwas mitgebracht.
Ein kleines Geschenk, bescheiden, leicht zu transportieren, und kein Staubfänger. Damit meine ich nicht meine Bücher, denn die müssen Sie nun mal leider erst kaufen, ehe Sie von ihnen, wie ich hoffe, mit einigem Gewinn an Erkenntnis, Freude, Verstörung, Unterhaltung, Phantasie und Erfahrung beschenkt werden. Nein, es ist ein sehr einfaches Mitbringsel, es passt in jede Handtasche oder Hosentasche, es passt auch in jeden Kopf. Es ist ein Merksatz fürs Leben, für jede Lebenslage, für jedes Alter, jedes Geschlecht, für unsere jungen Einwanderer ebenso wie für Senioren, für Schüler wie für Lehrer. Etwas für den grauen Alltag und den buntesten Fernsehabend. Mein Geschenk besteht aus einem Satz, und der Zufall oder die Ironie wollen es, dass ein Frankfurter Meister ihn verfasst hat, der in Frankfurt viel zu selten zu hören ist. Erschrecken Sie bitte nicht, mein kleines Geschenk ist tatsächlich von Goethe, ein Zweizeiler, den ich immer wieder gern zitiere und der auch auf dem Berger Marktplatz durch die Mikrofone und Lautsprecher schallen soll: „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt,/ Ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.“
Diesen Satz lässt der mittlere Goethe in seinem Stück „Torquato Tasso“ interessanterweise nicht den Dichter Tasso, die Hauptperson, sagen. Hier spricht kein Lobbyist in eigener Sache, sondern der Herzog, also der Politiker, der Staatschef von Ferrara, er verkündet eine politische Maxime, eine politische Weisheit.
Also noch einmal, zum Mitschreiben: „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.“ Schwer übertrieben? Nein.
Typisches, arrogantes Elitedenken? Nein.
Ziemlich durchgeknallt, der Goethe? Nein, im Gegenteil.

Wenn wir uns darauf einigen, dass Goethe unter Barbaren ungebildete oder bildungsunwillige, rohe oder grausame Menschen versteht, dann ist dieser Satz im Jahr 2008 vielleicht wahrer und brauchbarer als 1786, als er geschrieben wurde. Denn er richtet sich nicht nur gegen Rassisten und Religionsfaschisten, das ist selbstverständlich, sondern vor allem gegen die Barbaren innerhalb unserer, ich sag es betont provozierend: Kulturnation.

Der Satz richtet sich auch gegen die, die unsern Reichtum an Kultur, Kunst, Literatur, Dichtkunst ignorieren, verschleudern, verraten. Und das sind eben nicht nur die vielgeschmähten Finanzpolitiker und die mit Recht wegen massenhafter Kindesmisshandlung zur Hölle verdammten Shareholder des Privatfernsehens, nein, diese Verräter sind oft und gerade auch unter Bildungspolitikern, Medienleuten und Professoren zu finden.
Darf ich konkret werden und im Sendebereich des Hessischen Rundfunks bleiben, dem ich so viel an Bildung und Weltgewinn durch Musik und Literatur in meiner Jugend zu verdanken habe? Ich denke, wenn ich an Goethes Satz denke, unter anderem an die Chefs dieses Senders. Diese Barbaren vom Dornbusch haben zum Beispiel in wenigen Jahren fast alles, was die Hessen an Literatur und geschliffenem Wort erleuchten könnte, verbannt, gekappt oder eingedampft. Aus kriecherischem Gehorsam vor dem angeblichen Publikumsgeschmack, vor der heiligen Quote. Ein in allen Sendern herrschender Gehorsam, der allein auf Denkfaulheit gründet und nichts als eine Kapitulation vor der allgemeinen Verblödungssucht ist. Verzeihen Sie mir bitte die groben Worte, aber ich sehe täglich in Italien, wie schnell die Verschleuderung und die Verachtung von Kultur das Feld bereiten für die Barbarei eines Mafia-Media-Markt-Faschismus. Wir sind zum Glück weit davon entfernt, aber gerade darum ist der scharfe Blick so nötig.
Die deutschen Rundfunk-Chefs also, ich meine sie nicht persönlich, sondern als Beispiel, die Goethe Barbaren nennen würde, antworten, der Wortanteil sei gar nicht zurückgegangen. Das stimmt oft sogar. Aber es herrscht nun auch in der Kultur das Geschwätz vor, das halbschlaue Dreiminuten-Gelabere – und manchmal auch, ich weiß, zwanzig Minuten Lesung oder ein gescheites Gespräch. Aber Denken, Sprache und Sprachgefühl entwickeln sich nicht am Geplauder, sondern am geschliffenen Wort, im besten Fall an der Dichtkunst. „Vermutlich“, schreibt der Jurist Michael Stolleis, „orientiert sich die Magnetnadel des Sprachgefühls vor allem an dichterischen Meisterwerken.“ Und wie soll denn das Lernen der Schüler (20 Prozent der Fünfzehnjährigen können nur unzureichend lesen und schreiben) und Studenten (Massen von Chemik- und Physikstudenten müssen ihr Studium abbrechen, weil sie keine stilistisch klaren Sätze schreiben können und über keine ausreichende Formulierungs- und Differenzierungsfähigkeit verfügen, welche die Naturwissenschaften verlangen), wie soll das Lernen der Schüler und Studenten und damit das Denken und damit die Substanz der Demokratie gefördert werden in den verschiedenen Hörerkreisen auf den verschiedenen Wellen, wenn nicht durch eine klare prägnante und, ich scheue mich nicht das zu sagen – vorbildliche Sprache? Die neumodische faule Ausrede „Die Leute da abholen, wo sie sind“ ist von gestern, das alte Konzept Fordern und Fördern ist von morgen.
Ja, höre ich schon antworten, der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Sender, ja, wo leben Sie denn, Herr Stadtschreiber? Haben Sie keinen älteren Hut auf Lager? Nein, dies ist, mit Verlaub, der allerneuste Hut, die aktuellste aller Fragen nach der Innovationskraft unserer medialisierten Gesellschaft in der globalisierten Welt, um es im üblichen Jargon zu sagen. Ich könnte darüber gern noch länger reden, aber ich begnüge mich damit, Ihnen eins von vielen Rezepten weiterzugeben, nämlich das, was der alte Goethe vor genau 222 Jahren ausgestellt hat: „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.“

Sie merken, meine Damen und Herren, ich spreche hier nicht oder nicht nur als Lobbyist in eigener Sache. Ich erwarte keineswegs von jedermann Begeisterung für die Literatur. Ich erwarte aber von jedem Bundesbürger wenigstens zehn Sekunden Aufmerksamkeit für einen Musiker wie Daniel Barenboim, der das, was Goethe meinte, noch weiter und noch radikaler fasst. Er sagte in einem Interview: „Wer die Literatur, die Kunst, die Bildung, also den Dialog nicht fördert, der fördert den Egoismus, den Vandalismus, den Terrorismus.“
Wer immer in diesem Land etwas zu fördern hat, sollte sich diesen Satz hinter die Ohren schreiben oder auf die Visitenkarte drucken lassen, Politiker, Wirtschaftler, Medienleute.

Die aktuelle ökonomische Krise, die mehr und mehr auch unsern Alltag und unsere Konsumgewohnheiten verändert, ist entstanden vor allem durch ökonomischen Größenwahn: Wer nach 24 Prozent Rendite giert wie beispielsweise die führende Frankfurter Bank, der kann nur auf die Nase fallen. Je höher die Banketagen, möchte man meinen, desto stärker der Märchenglaube – der übrigens mit den in der Dichtkunst gespeicherten Erfahrungen leicht zu kurieren oder zu vermeiden gewesen wäre. Nebenbei: Hätten die Vorstände der Frankfurter Banken nur, sagen wir, je zwei Bücher der vierunddreißig Bergener Stadtschreiber mit Verstand gelesen, sie hätten Milliarden-Verluste vermieden, behaupte ich. Da sehen Sie, wie viel Frankfurt von Bergen lernen kann!
Noch bedenklicher als der Märchenglaube an die Hochrenditen ist der Glaube an die alleinseligmachende Quantität. Die an sich nicht unnütze Berufsgruppe der Betriebswirte hat in den letzten Jahren überall in Europa, aber wieder mal besonders gründlich in Deutschland die Macht ergriffen: Betriebswirte, Controller und die Hersteller der entsprechenden Software. Nichts dagegen, wenn diese Leute kontrollieren, ob Autofelgen oder Drogerieartikel kostenoptimal produziert und vertrieben werden. Aber mittlerweile hat das primitive Kosten-Nutzen-Denken alle gesellschaftlichen Bereiche erobert, infiziert, verpestet. Wo immer Sie sich umhören im Lande, überall sind ähnliche Klagen zu vernehmen: ob in Krankenhäusern, bei Anwälten, in Ministerien und Ämtern, in Schulen und Universitäten, Kultureinrichtungen, Bibliotheken, bei der Altenpflege, in der Verlagsbranche, ja sogar bei Förstern – überall wird ein gewaltiger bürokratischer Aufwand um sogenannte Erfolgskontrollen getrieben, wobei alles quantifiziert wird und die Qualität einer Arbeit, weil schwer messbar, immer weniger als Erfolg gilt. Und so werden viele dieser Einrichtungen, oft gerade die, um die man uns in anderen Länder beneidet, umgebaut, unterwandert, entkernt, zerstört. Die ganze Gesellschaft soll so funktionieren, wie die McKinsey-Jüngelchen, die Betriebswirte, die Barbaren der Quantität und der Taschenrechnermoral, wie ihre Maschinen, wie ihre Software-Programme es befehlen. Der Witz ist, dass überall der bürokratische Aufwand zunimmt und die Qualität der Arbeit abnimmt – alle schimpfen darüber, aber niemand schimpft laut auf die schleichende Machtergreifung von SAP, und man freut sich, wenn die Spieler von Hoffenheim ein Tor schießen, die angeblichen Außenseiter. In Wirklichkeit ist Hoffenheim mit SAP die heimliche Hauptstadt Deutschlands.
Sollen andere darüber disputieren, ob wir schon Sklaven der Software sind. Und angeblich immer weniger fähig, selber zu denken, selber zu entscheiden. Ich empfehle als bewährtes Hausmittel zur Stärkung des Immunsystems gegen die Viren und Bakterien der Output-Ideologen den Satz von Goethe, Sie kennen ihn inzwischen: „Und wer der Dichtkunst – also der Qualität, dem Differenzierungsvermögen, der Klugheit, der Freude, der Idee, der Schönheit – Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.“

Sie, meine Damen und Herren, die hier versammelten Bergen-Enkheimerinnen und Bergen-Enkheimer, gehören seit vielen Jahren zu denen, die die Dichtkunst durchaus vernehmen, ja sogar einzelne Vertreter dieser Kunst in Ihre Mitte laden, um sie noch besser vernehmen zu können, in das Stadtschreiberhaus an der Oberpforte, und dafür ist Ihr Stadtteil in ganz Deutschland, ja in Europa berühmt. Wenn ich Ihnen den Goethesatz mitbringe, trage ich vielleicht eine Riesen-Eule nach Athen. Aber leider besteht die Welt nicht nur aus Bergen-Enkheim, und deshalb soll mein kleines Geschenk Sie möglichst oft ermuntern und bestätigen, zum Widerspruch anstiften und, wenn es sein muss, aufhetzen: „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.“ Sie glauben nicht, bei wie vielen Gelegenheiten dies bescheidene Geschenk als Argument, als Waffe dienen kann. Und nicht nur dann, wenn Stimmen aus der Politik oder der Presse oder der Stammtische nörgeln, es reiche allmählich mit dem Stadtschreiber-Spektakel, das komme zu teuer, und überhaupt, warum kein Rapper als Stadtschreiber. Nun, bei dem letzten Punkt kann ich Sie beruhigen – ich rappe meinen Rap mit der „Minute mit Paul McCartney“ hier in Bergen am 24. September. Und was die anderen Nörgeleien angeht, Sie haben schon gewonnen, wenn Sie zurückschlagen mit dem Satz, den Sie inzwischen auswendig können: „Und wer der Dichtkunst Stimme …“

In der Reihe der Stadtschreiber bin ich der 35. Das scheint viel, man kann darüber sinnieren, welch stolze Vergangenheit. Aber ich will einen kurzen Blick nach vorn wagen, in die Zukunft, noch einmal 35 Jahre weiter. Ich hoffe, es wird im Jahr 2043 auch ein Stadtschreiberfest geben. Wenn ein Satz wie der von Goethe zum Allgemeingut wird, dann sowieso. Es liegt also auch an Ihnen, meine Damen und Herren, wie Sie mit diesem Pfund wuchern, jeder auf seinem Feld. Also, 2043, da heizt man weniger und hockt mehr zu Hause, da fliegt keiner mehr in den Urlaub nach Indonesien oder auf die Canaren, da fährt man am Wochenende vielleicht mit der Bahn in den Taunus oder in die Rhön (wo übrigens mein nächster Roman spielt, der voraussichtlich während meiner Amtszeit erscheinen wird). Keine Angst bitte, auch bei der Umstellung auf mehr Wärme und weniger Energie hilft die Dichtkunst. Glauben Sie mir, die besseren Ingenieure, die besseren Wissenschaftler, die besseren Juristen sind fast immer die, die auch ein Ohr für die Künste haben. In 35 Jahren haben die Flachbildschirme nur noch Flachköpfen etwas zu bieten, wird der Internetzugang wahrscheinlich wegen Überlastung rationiert, und die arbeitslosen Controller mit Hartz IV-Bezügen und die McKinsey-Rentner fragen nach dem Sinn ihres Lebens und warum sie den Satz von Barenboim, den ich vorhin zitiert habe, nicht früher gehört haben. Ja, in dieser Zukunft werden die Bücher, die Literatur, die Kunst und Sätze wie der von Goethe vielleicht lebenswichtiger sein als heute. Wir sehen jetzt schon, wie immer mehr junge Leute dem verführerischen Sog der Künste folgen und auf diesen Wachstumssektor drängen, weil sie eines auf keinen Fall werden wollen: Barbaren. Wahrscheinlich ist die Autorin schon geboren, die in 35 Jahren hier stehen wird. Oder der Autor. Und ich wünsche, dass möglichst viele von Ihnen dann auch hier auf dem Marktplatz dabei sein werden und den Satz noch im Kopf haben werden, den der längst vergessene Delius Ihnen Anno 2008 eingetrichtert hat: „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.“

(Sinn und Form, Heft 3/2009)

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