Friedrich Christian Delius, FCD

Deutschland, ein Schlaraffenland

Deutschland, ein Schlaraffenland – oder warum Friedrich Schiller Joschka Fischer einen Barbaren nennen würde

1

Wer hierzulande vor ein Mikrofon geladen wird, ob im Studio oder in Sälen wie diesem, hat ein ungeschriebenes und unerbittliches erstes Gebot zu beachten: Du sollst lamentieren, und zwar möglichst laut! Ein Gebot, das man nicht zweimal sagen muss, denn an Gründen zur Klage mangelt es nicht. Neben der diffusen Angst, wohin Ökonomie und Politik, Biochemie und Beamtenwillkür uns noch treiben werden, schlägt die tägliche Erfahrung auf die Gemüter. Überall wird verknappt, gekappt, gekürzt, gestrichen, konzentriert, strapaziert, evaluiert … und geklagt, möglichst pauschal. Obwohl ihre Versorgungen und sozialen Umstände immer noch Weltspitze sind, zeigen die Deutschen so viel Ratlosigkeit und Pessimismus wie seit 1945 nicht. Keiner weiß weiter, jeder weiß nur, dass es so schnell nicht besser wird. Wohin man schaut, niemand schaut mehr durch. So viel Chaos war nie, überall scheinen sich Debakel, Desaster und Krisen aufzutun. Vom Blick über die deutschen, die europäischen Grenzen hinweg auf die geläufigen Weltkatastrophen ganz zu schweigen.
Das erste Gebot: Du sollst lamentieren! gilt erst recht für Autoren, denen man das Etikett Gesellschaftskritiker anpappt. Von ihnen wird erwartet, dass sie bei jeder Gelegenheit die Orgel der großen Anklage spielen. Mich aber reizt es nicht besonders, dieser deutschen Pflicht genüge zu tun. An Stoff fehlt es nicht, und an rhetorischen Tonfolgen zwischen Dur und Moll und Ironie hoffentlich auch nicht. Doch ich will die gute Stunde, die mir hier für diese Vorlesung gegeben ist, nicht damit verschwenden, Ihnen das, was Sie aus Ihrer Umgebung oder aus den Medien nicht schlechter kennen als ich, noch einmal aufzuzählen und in geschärfte Sprache übersetzen. Sie wären, fürchte ich, ohnehin mehr oder weniger meiner Meinung.
Ich ziehe es vor, meine Damen und Herren, Sie zu enttäuschen. Nicht von den Verlusten und der Armut werde ich sprechen, sondern von unserm Reichtum. Ja, nicht von dem, was uns fehlt und verloren geht, sondern von dem, was wir haben. Nicht von der allgemeinen und der jeweils persönlichen Misere, die an jedem Stammtisch, in jeder Talkshow, in jeder Zeitung beschworen wird, sondern von den Schätzen, die wir unterschätzen. Zum Beispiel von dem Reichtum der Literatur. Und von der Reichtum schaffenden Literatur. Also von der Notwendigkeit der Literatur.

2

Schon die Erwartung, der Schriftsteller, der Dichter möge mit seinen Worten, mit seinen Büchern oder seiner Rede etwas sagen, was den Aufwand des Lesens oder des Zuhörens lohnen sollte, ist ein Beleg für das, was ich mit Reichtum meine. Schon die Spannung, ob der Autor die allseits gefühlte Misere deuten, erhellen, beschwören, beschreiben oder mit dem Glanz und der Herrlichkeit des Witzes befragen und unterwandern werde, lässt auf die Erwartung schließen, hier könnte einer die Schatztruhe einer anderen, persönlichen, direkten Sprache öffnen. Auch heute, wo doch angeblich und tatsächlich weniger gelesen wird und die Zunft der Schreiber angeblich nichts mehr gilt, wachsen solche Hoffnungen und Erwartungen sogar fort.
Mehr und mehr werden die Künste als Zuflucht und Sinnersatz angesehen und gebraucht. Überall fehlt Orientierung, also sucht man sie, wenn nicht in der Religion, dann in der Kunst. „Das Unbehagen an der Welt,“ ich zitiere Thomas E. Schmidt, „der Verfall der Moral, die Verhässlichung der Welt durch die globale Wirtschaft, der Irrsinn der Wissenschaft, die Verblödung der Massen“, all das führt zu moderaten Heilserwartungen an das irdische Reich der Kultur und Kunst. Es hängt mit diesem immateriellen Reichtum zusammen, dass Hunderttausende von jungen Leuten zum Film, zum Schauspiel, zur Musik, zur Videokunst und Malerei und in den Literaturbetrieb drängen (zu viele, wenn Sie mich fragen, denn auf der andern Seite fehlen Ingenieure, Mathematiker, Physiker).
Gesucht wird ein Ausgleich gegen den Trend zum alles dominierenden Schema des Ja oder Nein, On oder Off, In oder Out. Die Künste haben nicht-lineare und nicht-entfremdete Tätigkeiten zu bieten. Sie stehen im Widerspruch zur Kosten-Nutzen-Moral, und können, wenns gut geht, den größten, weil unberechenbaren und von keinem McKinsey-Kriterium fassbaren privaten wie öffentlichen Nutzen haben. Und mit viel Fleiß und sehr viel Begabung und viel mehr Glück können hier die kostbarsten Güter erworben werden, die heute zu haben und nicht zu kaufen sind: Unabhängigkeit, relative Autonomie im Denken, relative Immunität gegen den Zeitgeist.
Hier wird es Zeit für eine begriffliche Klärung. Kunst gehört zur Kultur. Aber vieles, wenn nicht das meiste, was unter Kultur läuft, hat mit Kunst nichts zu tun. Kunst ist im Kulturbetrieb die Ausnahme, denn sie ist grundsätzlich eine Zumutung, Provokation, Überforderung. Sie hat keinen Zweck, sie ist nicht dienstbar – und kann gerade deshalb, wenns gut geht, für Verstand und Seele dienlicher als alles andere sein.

3

Vom Reichtum reden heißt: Von den Gegenmitteln reden, die wir haben, um der Idiotisierung der Gesellschaft zu widerstehen, von den Mitteln, die wir haben, um das Sensorium, das Wissen, den Gemeinsinn zu entwickeln. Von den Mitteln, die Demokratie zu beleben und die schwer erkämpften Freiheiten zu würdigen, zu sichern und zu nutzen. Nach diesen Mitteln brauchen wir glücklichen Mitteleuropäer nicht lange zu suchen. In Bibliotheken, Museen, Theatern, ja auch in Konzertsälen, im Internet, in Buchhandlungen, da und dort auch in Kinos, ja selbst in besseren Fernsehprogrammen und einigen Zeitungen wird dieser Reichtum präsentiert, liegt dort angehäuft, der Kronschatz unserer Zivilisation. Er ist nicht schwer zu finden, wir brauchen nur danach zu greifen, Augen, Ohren und Hände aufzumachen, es ist wirklich fast wie im Schlaraffenland.
Es fehlt nur eines, das Bewusstsein von diesem Reichtum. Also das Glücksgefühl, im Schlaraffenland zu leben. Halten Sie mich, wenn Sie wollen, für einen Spinner – aber bitte, schauen Sie sich in der Welt um, selbst in den reicheren Ländern werden Sie vielleicht in Skandinavien, in Frankreich oder den Niederlanden, aber sonst kaum einen solchen Reichtum, eine solche Vielfalt von Angeboten, Anregungen, Anstößen finden wie hierzulande. Dabei geht es gar nicht um statistische Vergleiche zwischen den Nationen, um die Zahl der Bücher oder Bühnen oder Filmmeter oder Opernsitzplätze pro Kopf und Land. Ich frage nur, ob wir unser Schlaraffenland wirklich schon entdeckt haben und zu würdigen wissen.
Ich wäre schon ganz zufrieden, wenn die Leute, die diesen Reichtum erahnen, schätzen, nutzen und mehren, also beispielsweise Germanisten und andere Akademiker, Lehrer und andere Schulmeister, Autoren und andere Diener im Weinberg der Sprache, nicht immer nur im Klageton darüber sprechen würden. Seltsamerweise treten die meisten, die von den Goldminen des Geistes und der Phantasie profitieren, eher still und defensiv auf. Oder fühlen sich verdächtigt als die letzten Vertreter einer aussterbenden Bildungskultur und wittern überall den Untergang, nur weil alles nicht mehr so toll ist wie früher angeblich.
Dabei gibt es keinen Grund zur Verzagtheit. Denn die Leute mit Bildungshunger und Leselust sind in aller Regel auch die mit dem weiteren Horizont und dem größeren Einfühlungsvermögen. Sie sind die Avantgarde, das Salz der Gesellschaft, fortschrittlicher, zukunftsorientierter und zukunftstauglicher als die Mehrheit. Die Ironie daran ist nur, dass diese Leute das gar nicht wissen.
Das muss ich erklären. Und zwar an Ihnen, meine Damen und Herren. Ja, ich meine Sie, von der ersten bis zur letzten Reihe, die sich zu Büchern hingezogen fühlen, von Romanen bewegen, vielleicht sogar von Gedichten entzücken und irritieren lassen. Sie, die nicht leben wollen ohne die schwer in Worte zu fassenden Sprachen der Musik und der großen Bilder. Sie, die nicht verzichten wollen auf die Erschütterungen und Bewusstseinserweiterungen durch Theater und Filme.
Sie sind heute Abend hierher gekommen, weil Sie die Literatur und/oder die Universität, die Brüder Grimm und/oder diese Reihe schätzen, vielleicht von dem Autor hier vorn schon mal was gehört oder sogar gelesen haben oder zumindest neugierig sind. Wie auch immer, ich vermute, Sie würden nicht zögern, den Satz von Arno Schmidt zu unterschreiben: „Wer nicht liest, kennt die Welt nicht.“ Damit gehören Sie nicht etwa, wie Sie vielleicht manchmal meinen, zu den letzten Anhängern einer aussterbenden Kunstform oder eines altmodischen Luxus‘. Nein, im Gegenteil. Sie sind vielleicht nicht schlauer als andere, als Rechtsanwälte, Informatiker, Politiker, Makler, Genetiker und all die wissenschaftlichen Experten, die an unserer Zukunft basteln. Aber Sie wollen mehr wissen über das Leben als die anderen. Sonst würden Sie nicht Romane lesen. Sie sind stark genug, Ihre eigenen Ansichten hin und wieder in Frage stellen zu lassen. Sie wissen, dass Bücher die Dummheit gefährden – nicht alle, aber doch erstaunlich viele. Sie geben sich nicht mit schnellen Antworten zufrieden. Sonst würden Sie die Literatur nicht lieben. Sie lassen sich verlocken, ja verführen durch das Schöne an der schönen Literatur. Also suchen Sie das Vielfältige, nicht das Einfältige und Einförmige. Sie haben Gefallen an sprachlichen Spielen, Melodien, Figuren. An Individualität und Eigensinn. Sie wissen, dass menschliches Leben sich nicht auf Ja-Nein, In-Out, Gut-Böse, Gewinn-Verlust usw. oder ähnliche Formeln reduzieren lässt. Damit wissen Sie mehr als die meisten, jedenfalls mehr als die, die alles der Rationalität des Geldes oder Rationalität der Paragraphen unterwerfen und damit jetzt schon verarmt und gescheitert, jetzt schon von gestern sind. Und wenn Sie das realisieren, Ihren eigenen elementaren Vorsprung vor dieser Mehrheit der Macher begreifen, gehören Sie zur wahren Vorhut der Gesellschaft, zu den Vorläufern, Pionieren der Zukunft, zu den Weitsichtigen: den Leuten von morgen.
Da sind Sie nicht allein. Schon hier im Raum Kassel gibt es ein paar tausend, die zu dieser Avantgarde zu rechnen wären. Und im ganzen Land, nun ja, das ist schwer zu schätzen, sagen wir zwei, drei, vier Millionen, es würde also für die Fünfprozenthürde reichen.
Keine Angst, hier wird keine Partei gegründet. Ich möchte Sie nur aus der Defensive locken. Denn Sie gehören zu den Leuten von morgen, und das dürfen Sie behaupten, ohne sich dem Verdacht der Bildungs-Arroganz auszusetzen. Ich prophezeihe Ihnen, spätestens in zehn Jahren werden die Experten, die heute nur die sogenannte Effizienz gelten lassen, jammern und fordern: ja, wir brauchen mehr Lesebildung, mehr Geisteswissenschaften, mehr Kunstsinn! Denn meine scheinbar altmodische These wird nicht nur von aller Erfahrung, sondern ebenso von der neuesten Hirnforschung und Bildungsforschung bestätigt: Ohne musische Fähigkeiten gibt es keine gesellschaftlichen Fähigkeiten, ohne Emotionalität keine Vernunft, ohne ein Sensorium für die Künste gibt es kein Sensorium für Demokratie und Freiheit, ohne die Literatur, bespielsweise, versinken wir in Barbarei.

4

Das scheint Ihnen übertrieben? Nun, dann lassen Sie mich etwas ausholen. Vor über zweihundert Jahren schrieb ein deutscher Dichter:
„Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie vom lärmenden Markt des Jahrhunderts.“ (Theor. Schriften, DKV, 559)
Das kommt uns doch ziemlich bekannt vor: die gesunkene Menschheit, der Nutzen als Idol der Zeit, der lärmende Markt. Friedrich Schiller hat 1795 diese Diagnose entworfen. Es war kurz nach der Französischen Revolution und während des Höhepunkts der deutschen, der Weimarer Klassik. Vielleicht wird Ihnen diese Epoche weniger fern, entrückt oder märchenhaft erscheinen, wenn Sie die Französische Revolution, die an den moralischen Defiziten aller Beteiligten gescheitert ist, mit dem Scheitern des Staats-Sozialismus 1989 vergleichen. Oder wenn Sie Schillers Ernüchterung über die Aufklärung und Vernunft, die keinen Fortschritt gebracht haben, etwas kühner vergleichen mit der Ernüchterung heute über das Scheitern der ökonomischen Vernunft des Neoliberalismus, die zum bloßen Egoismus verkommen ist. Und drittens darf uns auch Napoleon einfallen, der 1795 mit seinem Konzept für die Einigung Europas und die Globalisierung zwar noch nicht in Erscheinung getreten war, aber immerhin bald danach, drei Jahre später, schon in Ägypten stand. Kurz, eine wilde, ratlose, unübersichtliche Zeit, und deshalb lohnt es sich, noch weiter Friedrich Schiller zu zitieren:
„Auf der anderen Seite geben uns die zivilisierten Klassen den noch widrigern Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters (…) Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt. (…) Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit herauszubringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft. Unser freies Urteil unterwerfen wir ihrer despotischen Meinung, unser Gefühl ihren bizarren Gebräuchen, unseren Willen ihren Verführungen (…) und wie aus einer brennenden Stadt sucht jeder nur sein elendes Eigentum aus der Verwüstung zu flüchten.“ (568 f)
Der gute alte Schiller hätte sicher nichts dagegen, wenn Sie bei diesen seinen Sätzen mehr als einmal an unsere Medien- und Marktgesellschaft und unsere Besitzstandswahrungs-Lethargie gedacht haben. Er hatte zu seiner Zeit wenig Hoffnung, er machte sich mit seiner Gesellschaftskritik nicht beliebt, er war ziemlich allein und konnte weder bei dem verrotteten Adel und noch bei dem auf Eigentum und Nutzen fixierten Bürgertum und erst recht nicht bei den sogenannten niederen Klassen mit ihren „rohen gesetzlosen Trieben“ auf Zustimmung rechnen. Seine Kritik an der Aufklärung des Verstandes, die allein auch keine Besserung bringe, machte ihn selbst unter Gelehrten zum Außenseiter. Aber was er unter so widrigen Umständen zu Papier brachte in seiner Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, das kann heute noch zur Anregung dienen, wegweisend und in einem tiefen oder soll ich sagen im konservativen Sinne revolutionär.

5

Schiller möchte den Menschen veredeln, er sieht in jedem die Anlagen zum Höheren, möchte ihn dem Ideal näher bringen. Da runzeln wir, nach zweihundert Jahren Kriegs-, Massenmord- und Unterdrückungsgeschichte, mit Recht die Stirnen, falls wir ihn nicht gleich auslachen, den idealistischen Herrn Klassiker. Der aber drückt sich, zu diesem Punkt befragt, durchaus realistisch und drastisch aus:
„Der Mensch kann sich aber auf doppelte Weise entgegen gesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.“ (567)
Wir kennen sie aus der Geschichte, aus den Medien, aus dem Alltag, auch unsere Zeit ist voll von solchen Barbaren, die ihre Gefühle mit ihren Grundsätzen zerstören. Und voll von Wilden, deren Gefühle über ihre Grundsätze herrschen, falls sie überhaupt welche haben.
Deshalb können wir mit Schiller weiter fragen:
„Denn woher diese noch so allgemeine Herrschaft der Vorurteile und diese Verfinsterung der Köpfe bei allem Licht, das Philosophie und Erfahrung aufsteckten? Das Zeitalter ist aufgeklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden und öffentlich preisgegeben, welche hinreichen würden, wenigstens unsere praktischen Grundsätze zu berichtigen. Der Geist der freien Untersuchung hat die Wahnbegriffe zerstreut, welche lange Zeit den Zugang zu der Wahrheit verwehrten, und den Grund unterwühlt, auf welchem Fanatismus und Betrug ihren Thron erbauten. Die Vernunft hat sich von den Täuschungen der Sinne und von einer betrüglichen Sophistik gereinigt, und die Philosophie selbst, welche uns zuerst von ihr abhängig machte, ruft uns laut und dringend in den Schoß der Natur zurück – woran liegt es, daß wir immer noch Barbaren sind?“
Und Schiller antwortet:
„Es muß also, weil es nicht in den Dingen liegt, in den Gemütern der Menschen etwas vorhanden sein, was der Aufnahme der Wahrheit, auch wenn sie noch so hell leuchtete, und der Annahme derselben, auch wenn sie noch so lebendig überzeugte, im Wege steht. Ein alter Weiser hat es empfunden, und es liegt in dem vielbedeutenden Ausdruck versteckt: sapere aude.
Erkühne dich, weise zu sein. Energie des Muts gehört dazu, die Hindernisse zu bekämpfen, welche sowohl die Trägheit der Natur als die Feigheit des Herzens der Belehrung entgegen setzen.“ (581)
Diese Überlegungen hören sich, da ich nur Auszüge zitieren kann, viel idealistischer an, als sie bei Schiller entworfen werden. Er weiß durchaus, wie die Realität aussah, damals, und wie sie aussieht, heute: „Der zahlreichere Teil der Menschen wird durch den Kampf mit der Not viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und härtern Kampf mit dem Irrtum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er Andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priestertum für diesen Fall in Bereitschaft halten. Wenn diese unglücklichen Menschen unser Mitleiden verdienen, so trifft unsere gerechte Verachtung die andern, die ein besseres Los von dem Joch der Bedürfnisse frei macht, aber eigene Wahl darunter beugt.“ (581f)
Und es geht weiter, als wären die Sätze auf unsere fernseh- und mediendominierte Epoche gemünzt, auf Esoterik und Klatschpresse: „Diese ziehen den Dämmerschein dunkler Begriffe, wo man lebhafter fühlt und die Phantasie sich nach eignem Belieben bequeme Gestalten bildet, den Strahlen der Wahrheit vor, die das angenehme Blendwerk ihrer Träume verjagen. Auf eben diese Täuschungen, die das feindselige Licht der Erkenntnis zerstreuen soll, haben sie den ganzen Bau ihres Glücks gegründet, und sie sollten eine Wahrheit so teuer kaufen, die damit anfängt, ihnen alles zu nehmen, was Wert für sie besitzt.“(582)

6

Schiller schlägt vor, sehr vereinfacht gesagt, politische Probleme durch Ästhetik zu lösen, „weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.“ (560)
Die Aufklärung des Verstandes reicht nicht, „weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß, weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zur Verbesserung der Einsicht erweckt.“ (582) Die Kultivierung der Sinne in jedem einzelnen Menschen ist das Programm.
Das moderne Subjekt liege mit sich selbst im Widerspruch. Allein die Kunst könne die im Widerstreit stehenden geistigen und sinnlichen Kräfte des Menschen harmonisieren. Anders als die Wissenschaft, die an die Vernunft gerichtet ist, spreche die Kunst Vernunft und Sinnlichkeit nicht gesondert an, sondern beide zugleich. Nur die Kunst könne dem Menschen die Identitätserfahrung schenken, die ihm die Wirklichkeit verweigert.
Warum nur die Kunst? Weil das Kunstwerk keinen Zweck hat, weil es autonom ist, „lebende Gestalt“ weil es seine ästhetische Struktur mit sinnlichen Qualitäten vereinigt und so den Betrachter, den Leser, den Hörer erfahren lässt, dass jener harmonische Ausgleich von Vernunft und Sinnlichkeit möglich ist. Weil die Kunst aus der Verbindung von Phantasie, des „Möglichen“, und Vernunft, des „Notwendigen“, ein Ideal des selbstbestimmten Menschen erzeugt, der in der Entfaltung seiner Anlagen und Fähigkeiten immer auch die Sache der Gesellschaft befördert.
Die These von der Versöhnungsleistung durch Kunst gipfelt in dem bekanntesten Satz der „Ästhetischen Erziehung“: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (614)

7

Keine Sorge, ich bin nicht angetreten, um Ihnen eine Vorlesung über Schillers Briefe zur„Ästhetischen Erziehung“ zu halten.
Lieber möchte ich Ihnen erklären, wie ich auf ihn gekommen bin. Nein, nein, nicht wegen des anstehenden Schillerjahrs. Sondern wegen einer Reise am Mississippi entlang nach New Orleans, eine Stadt, die man sich heute als eine Art Ballermann der USA mit schönerer Kulisse vorzustellen hat, wo die Leute in möglichst kurzer Zeit möglichst viel saufen und mal richtig die Sau rauslassen, was auch in einem prüden Land irgendwo sein muss. An diesem Brennpunkt der nordamerikanischen Menschheit, die im allgemeinen nicht gerade durch Schönheit oder schöne Kleidung auffällt, kam mir, es war der Ostermorgen, beim großen Defilé der Hässlichkeiten plötzlich an Friedrich Schiller in den Sinn. Unbedingt mal wieder seine „Ästhetische Erziehung des Menschen“ lesen, nahm ich mir vor, hat Schiller vielleicht Antworten auf die Frage: Hängen der Trend zum Analphabetismus und der neue politische Analphabetismus, hängen der angebliche ästhetische und der angebliche moralische Verfall zusammen, und wenn ja, wie?
Aus diesen Briefen lernen wir nebenbei, dass unsere Krisen so neu nicht sind. Und dass alte Überlegungen, sie zu meistern, von einladender Aktualität sein können. Selbst wenn heute keiner mehr glaubt, mit Schillers Ästhetik den Staat zu bessern und die Freiheit noch prächtiger erblühen zu lassen, ein Konzept für das Individuum liefert er allemal. Ohne „Ausbildung des Empfindungsvermögens“, die Schiller fordert, kann die Gesellschaft einpacken.
Ein paar Jahre früher schrieb der andere Herr aus Weimar:
„Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt,/ ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.“ Das lässt der mittlere Goethe im „Tasso“ übrigens nicht den Dichter sagen, sondern den Herzog, den Politiker.
Schwer übertrieben? Völlig irreal? Durchgeknallt, der Goethe? Nein, ich halte diesen Satz für ein brauchbares Kriterium, das man sich merken und parat haben sollte für die Verächter der Geisteswissenschaften, für Intendanten öffentlich-rechtlicher Sender ebenso wie für die Shareholder des Privatfernsehens, für Finanzminister, Bankiers, ja sogar und erst recht für viele Kulturbeamte. Um konkret zu werden, auch für den Rundfunkrat und die Chefs des Hessischen Rundfunks. Diese Barbaren haben zum Beispiel in wenigen Jahren fast alles, was die Hessen an Literatur und Wort erleuchten könnte, aus dem Sender verbannt – aus Gehorsam vor dem angeblichen Publikumsgeschmack, ein Gehorsam, der allein auf Denkfaulheit gründet und nichts eine Kapitulation vor der allgemeinen Verblödungssucht ist.
Sicher, man kann nicht von jedermann Begeisterung für die Literatur erwarten. Trotzdem dürfen wir diesen Herrschaften viel angriffslustiger begegnen als bisher. Sie werden es sich gefallen lassen müssen, als Barbaren und Wilde klassifiziert zu werden. Denn die Fakten sprechen gegen sie. Zum Beispiel die Fernseh- und Mediengewaltigen, die, das ist eben leider empirisch bewiesen und kein Vorurteil, vor allem Dummheit fördern und, was nun auch Langzeitstudien zeigen, dem Publikum Krankheiten aufladen, geistige und körperliche Verfettung, Vorstufen der geistigen und politischen Verwahrlosung. Auch im Umkehrschluss gilt der Satz von Daniel Barenboim: Wer die Literatur, die Kunst, die Bildung, also den Dialog nicht fördert, der fördert den Egoismus, den Vandalismus, den Terrorismus.
Sie halten das für übertrieben, so viele Leute als Barbaren und Wilde abzustempeln? Selbst wenn man das nicht pauschal täte, sondern nach sorgfältiger Einzelfallprüfung? Das wäre arrogant, weil es dann in unserm hübsch und reich zivilisierten Land fast nur noch Barbaren und Wilde gäbe? Und weil es die schlimmste Überheblichkeit wäre, nur die Leute, die Lesen, Zuhören und Kunstempfinden, ja Kenntnis der Dichtkunst, nachweisen könnten, nicht als Barbaren und Wilde zu verdammen?
Nein, meine Damen und Herren, um moralische Urteile geht es überhaupt nicht.
Also, nehmen wir noch ein Beispiel. Einen Minister, der einer angesehenen Behörde vorsteht, dem Auswärtigen Amt. Hier herrscht der teuerste und am wenigsten produktive aller Beamtenapparate, nun gut, das hat Tradition. Hier wird aber auch die auswärtige Kulturpolitik verwaltet, also über die Goethe-Institute, damit über die Zukunft der deutschen Sprache, über die Verbreitung der attraktivsten deutschen Filme, der Musik, Literatur, Kunst, über die Werbung für die großen Philosophen und das immer noch anziehende demokratische Modell Deutschland entschieden. Und über die Etats des DAAD und der Humboldt-Stiftung, die den unerlässlichen internationalen Austausch der Wissenschaftler organisieren und finanzieren.
Auswärtige Kulturpolitik ist die weiseste Zukunftsinvestition, das preiswerteste Antiterrorismusprogramm und die beste Deutschlandwerbung nach Daimler und BMW. Das ist bekannt, nur an der Spitze des Auswärtigen Amtes nicht. Bei aller Liebe für unsern Außenminister wird gern vergessen, dass er in wenigen Jahren den Anteil der Kulturpolitik von ca. 33% seines Gesamthaushalts auf 25 % hat sinken lassen. Also etwa um ein ganzes Drittel!
Und die von den andern Parteien sind nicht besser: Da kommen etwa aus dem Vermittlungsausschuss zwei Ministerpräsidenten daher, Roland Koch und Peer Steinbrück mit Namen, und meinen, Kulturpolitik sei „Subvention“. Und stellen sie in ihrer Streichliste neben die Pendlerpauschale und die Förderung des Eigenheimbaus.
„Sollte sich der Kulturbegriff der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück durchsetzen,“ schrieb die Süddeutsche Zeitung, „stünde Deutschland vor einer völlig neuen und konsequent barbarischen Definition von Kultur: Wissen, Bildung und alles, was sich an Klugheit und Schönheit noch in der Welt befindet, hätte fortan als Vergünstigung zu gelten.“ (12.3.04)
Erst nach aufwendigen Protesten ist dieser Subventionsbegriff der Barbaren Koch und Steinbrück zurückgenommen worden. Trotzdem gehen die Kürzungen an der falschesten Stelle weiter – die vielen hübschen Zulagen für die Beamten werden nicht angetastet, überproportial trifft es die Kultur. Und warum? Weil die Grundsätze, sagt Schiller, das Gefühl zerstören.
Da möchte einer ein guter Außenminister sein, und teilweise ist er das ja auch. Aber über dem Grundsatz, als Grüner den Beamtenapparat nicht vergraulen zu wollen und das Amt, den Staat zu stärken, zerstört er sein Gefühl, das heißt seine Entwicklung, seinen Aufstieg dank Bildung und Büchern und Kultur. Und er scheint das so sehr zu verdrängen, dass er diese Lehrjahre durch die Kultur anderen nicht gönnt, schon gar nicht den jungen Leuten in Lagos oder Reykjavik usw. Er könnte am diplomatischen Personal sparen und die hochbürokratischen Strukturen ändern, die immer noch an einer Epoche orientiert sind, in der es weder Telefon noch Fax noch email gab. Stattdessen lässt man den wissenschaftlichen Austausch veröden, lässt die Werbung fürs Deutsche verkümmern und versperrt den jungen Arabern, die für ihr Leben etwas anderes als Business oder Bin Laden suchen, die Tür.
Um die Person Joschka Fischer, die ich zuweilen schätze, geht es nicht. Aber auch er muss sich nach Schillerschen Kriterien messen lassen, die, wie Sie sehen, durchaus aktuell sind.
Es kann also sehr nützlich sein, sich mit ein paar Portionen des Schillerschen Idealismus zu rüsten und zu wehren. Und ich wünsche mir, dass Sie sich auch den Satz von Goethe einprägen und gelegentlich als Waffe benutzen, wenn Ihnen jemand mit Wörtern wie Sachzwang, Sparpotential, Qualitätsoptimierung, Kernkompetenz daherkommt. Deshalb zitiere ich noch einmal, zum Mitschreiben: „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.“
Danke. Und zur Belohnung werde ich Sie einstweilen mit unsern Klassikern verschonen.

8

Woher, werden Sie fragen, diese Frechheit, die Dichtkunst, die Literatur zu einem so ultimativen Kriterium zu machen? Warum nicht, wenn es schon die Kunst sein soll, der Film, das Theater, die Videokunst, die Malerei? Ich hätte nichts dagegen, wenn jemand sich auf diese Felder begeben und ähnliche Thesen und Ermunterungen daraus ableiten würde – nur: ich kann das nicht, auf diesen Gebieten bin ich nicht kompetent.
Aber es gibt sicher noch einen zweiten Grund. Dichtkunst ist die Basiskunst. Literatur wird aus einem Stoff gemacht, über den wir alle verfügen, aus Sprache. Keine andere Kunst bewegt sich so nah oder scheinbar so nah an unserm alltäglichen Verständigungsmittel, am Glück des Verstehens und den großen und kleinen Dramen des Missverstehens entlang.
Die Binsenweisheit von Wilhelm von Humboldt, „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“, klingt heute, da die Bilder herrschen und die Sprache verdrängen, da die Bildersprache stärker scheint als die Wörtersprache, fast provozierend. Eine Provokation, die wir vielleicht erst so richtig begreifen, wenn wir hören, dass 20 Prozent der fünfzehnjährigen Schüler nur unzureichend lesen und schreiben können. Wenn wir hören, dass viele Chemie- und Physikstudenten ihr Studium abbrechen müssen, weil sie keine stilistisch klaren Sätze schreiben und über keine ausreichende Formulierungs-, also Differenzierungsfähigkeit verfügen, welche die Naturwissenschaften verlangen. Oder wenn wir hören, dass der sogenannte Mindestwortschatz, der heute von Zehnjährigen verlangt wird, gesenkt statt erhöht wird – überdies verordnet von sogenannten Kulturbeamten.
„In der Vorbereitung auf ein ausdrucksfähiges Leben innerhalb der Gesellschaft“, schreibt Günter Radtke, „wird jungen Menschen kaum noch bewußt gemacht, daß Bildung über Zwecke hinausgehen muß, hinausreichen muß über den mühsamen Wettlauf um gute Zensuren. Wir wissen: die Antriebskräfte des Menschen kommen nun mal aus dem Emotionalen. Die Verstandessphäre allein kann uns nicht bewegen, alle unsere Sinne zu nutzen. Die Sprache ist ein Gefühlsträger. Und wir wissen doch, was Trägerschaft ist: Wir sind Leistungsträger, Entscheidungsträger, Bedenkenträger, Verantwortungsträger – ja, sollten wir da nicht auch mal die Tragfähigkeit der Sprache für unser Ich ausnutzen und uns von Sprache tragen lassen, sobald wir in unserm Gemüt ein drückendes Gewicht spüren? Können wir in unserer Zweck-Mittel-Nutzen-Epoche das Besitzdenken nicht auch auf ein Sprach-Vermögen richten – : wegen der guten Verzinsung?“ (Plateau, Okt. 2003)
Sprache ist entstanden, als der Mensch nicht mehr Schimpanse sein wollte. Es steht den Menschen natürlich frei, sich allmählich wieder zu Affen zurückzuentwickeln. Wir sind sowieso sehr nah dran, das sollte man nie vergessen, 98,6 Prozent unserer Gene sind identisch mit denen der Schimpansen. Ich allerdings möchte zur Verteidigung der spärlichen 1,4 Prozent menschlicher Freiheiten und Möglichkeiten noch ein wenig beitragen.
Sprache ist Grundlage für alles, und nur Idioten können gegen einen soliden und fordernden Deutschunterricht sein, gegen die Förderung von Sprachlust und Leselust in allen Altersstufen und gegen Bildung durch Stilbildung.
„Man muss Kinder mögen,“ schreibt Jan Ross, „um ihnen etwas beizubringen, und man muss mit roten Ohren über den großen Büchern der Menschheit oder aus dem großen Buch der Natur sitzen, um etwas herauszubekommen. Zugleich jedoch ‚muss‘ das niemand, es ist ganz und gar unselbstverständlich, es kostet Zeit und Mühe und steht eigentlich in aussichtsloser Konkurrenz zu viel leichteren Wegen, Spaß zu haben und Geld zu verdienen. Man braucht das ansteckende Vorbild, um sich darauf einzulassen, den Lehrer, in dem die Faszination für sein Fach noch nicht erloschen ist, den Freund, dem seine Doktorarbeit auch wichtiger ist als die schnelle Karriere, und um einen herum Land und Leute, wo Erkenntnis etwas gilt und Ignoranz keine Zier ist.
Wer keinen Ehrgeiz und keine Hochschätzung für das Lesen, Grübeln, Ausprobieren und Nachts-Wachbleiben zu inspirieren vermag, die am Grund der Forschung liegen – der wird mit Innovationsbüros und Modernisierungsgipfeln schwerlich Spitzenleistungen herbeizaubern. Es mag sinnvoll sein, für die deutschen Schulen und Universitäten mehr Geld zu verlangen oder ihnen eine andere Organisation zu verpassen. Doch woran sie eigentlich kranken, ist die Missachtung der Gesellschaft für das, was in ihnen vorgeht, und die Selbstverachtung, die daraus entspringt, eine Mentalität, der Fun, Job oder eben auch die regierungsamtlich geforderte ‚Erschließung von Zukunftsmärkten‘ wichtiger sind als das komplizierte und empfindliche Eigenleben des Geistes. Es fehlt vielfach, banal und pathetisch, die Freude an der Sache.“(Zeit, 22.1.04)

9

Das Erstaunliche ist ja, auch das gehört zum Reichtum, dass diese Freude an der Sache zwar nicht von der Politik und schon gar nicht von den Bildungstechnologen verordnet, aber relativ leicht aus der literarischen Sprache gewonnen werden kann. Es gibt natürliche Grundlagen dafür, die Sprach-, Reim- und Wiederholungsfreude der Kinder. Und das noch Erstaunlichere ist, dass diese Freude an der Sprache, wenn sie nur gepflegt wird, in aller Regel wunderbare pädagogische und ethische Nebenffekte mit sich bringt.
Die Argumente hole ich von Joseph Brodsky. Er weiß, wovon er spricht, er wurde viele Jahre in sowjetischen Lagern für das Schreiben von Gedichten bestraft und misshandelt und lernte dann in den USA das Gegenteil kennen, eine freie, aber an Literatur nur wenig interessierte Kultur. 1988 erhielt er den Nobelpreis und sagte in seiner Stockholmer Rede:
„Im Ganzen gesehen hat jede neue ästhetische Erfahrung das ethische Bewusstein der Menschen geschärft. Denn die Ästhetik ist die Mutter der Ethik: Unsere Kategorien von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ sind zuallererst ästhetischer Natur (…) Jede ästhetische Wahl ist eine hochindividuelle Angelegenheit, und die ästhetische Erfahrung ist immer privater Art. Jede neue ästhetische Realität lässt diese Erfahrung noch privater werden, und diese Art Privatheit, die sich manchmal als literarischer oder sonstiger Geschmack tarnt, ist zwar keine Garantie, aber doch eine wirksame Verteidigung gegen jede Form von Versklavung. Ein Mensch mit sicherem Geschmack, besonders in Stilfragen, ist nämlich weniger anfällig für die primitiven Refrains und rhythmischen Beschwörungsformeln, die jeder Art von politischer Demagogie eigen sind.“
Und weiter:
„Das Leben in einer Gesellschaft, in der die Kunst im allgemeinen und die Literatur im besonderen Privileg einer Minderheit sind, scheint mir ungesund und gefährlich. Ich plädiere nicht für die Ersetzung des Staates durch eine Bibliothek, obwohl ich gelegentlich mit solchen Gedanken gespielt habe, aber ich zweifle nicht daran, daß das Leben auf der Erde besser bestellt wäre, wenn wir unsere Führer aufgrund ihrer Lektüre gewählt hätten und nicht aufgrund ihres politischen Programms. Die künftigen Lenker unserer Geschichte sollten anstatt über den künftigen Kurs ihrer Außenpolitik über ihr Verhältnis zu Stendhal, Dickens und Dostojewski befragt werden. Da das A und O der Literatur aus menschlicher Diversität und Perversität besteht, erweist sie sich als zuverlässiges Gegengift gegen jeden bekannten oder noch unbekannten Versuch, die Probleme der menschlichen Existenz auf massenhafte und totalitäre Weise zu lösen. Als moralische Rückversicherung ist die Literatur zuverlässiger als ein Glaubenssystem oder eine philosophische Doktrin.“ (Brodsky)
Etwas trivialer als Schiller und Brodsky, aber darum nicht falsch, drückt das der Amerikaner Niel Postman aus: „Mit der Fähigkeit und Bereitschaft zu lesen steht und fällt auch die Befähigung zur Teilnahme am demokratischen System.“ Ja, das ist inzwischen sogar statistisch nachweisbar: sogar im unterentwickelten Leseland USA sind Literaturleser sozial wesentlich aktiver als Nichtleser.

10

Unser Gast da vorne hat gut reden, werden Sie denken, meine Damen und Herren. Deutschland, ein Schlaraffenland, der Reichtum der Kultur, das sagt sich leicht dahin. Aber was hat das mit unserm harten, kulturfeindlichen Alltag zu tun? Werden Sie doch endlich mal konkret, Herr Autor! Selbst wenn alles so schlüssig und effektvoll sein sollte, wie Sie hier behaupten, wo könnte man, wo würden Sie anfangen?
Auch das ist so schwer nicht. Wir sind hier in der Stadt von Wilhelm und Jacob Grimm. Also könnte man mit den beiden anfangen. Wenn zum Beispiel ab morgen Abend alle Kasseler Eltern, inclusive der türkischen, bosnischen, polnischen, und natürlich auch all die vielbeschäftigten Alleinerziehenden, ihren vier- bis zehnjährigen Kindern ein Märchen der Brüder Grimm vorläsen, wenn Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen die Eltern mit den Argumenten aus Bruno Bettelheims Buch „Kinder brauchen Märchen“ motivierten, wenn diese Lese-, Vorlese-, Intimitäts- und Abenteuerlust mit weiteren Büchern möglichst jeden Abend bis zur Pubertät gepflegt würde, und wenn dieser Brauch sich nicht nur in Kassel, sondern landauf, landab einigermaßen kontinuierlich durchsetzte, dann wird in zehn Jahren kein PISA-Schock mehr zu fürchten sein. Von den Gewinnen an Ich-Stärke und Phantasiekraft aller Beteiligten ganz zu schweigen.
Lassen Sie mich die naive Utopie fortspinnen: Wenn die Schüler jeden Alters, ja, auch in der Oberstufe, wieder Gedichte auswendig lernen müssten, dann würden sie, um nur den banalsten aller Nebeneffekte zu nennen, auch mit einem besseren Deutsch in ihren Bewerbungsschreiben überzeugen können als heute – und die Ein- und Aufstiegschancen verbessern.
Es wird viel geklagt über drogensüchtige und drogenanfällige Schüler. Aber wer schafft die Voraussetzungen, es mit dem besten Antidrogen-Programm zu versuchen, mit der Droge Literatur, bewusstseinserweiternd, ablenkend und anregend zugleich, zur Selbstfindung ebenso geeignet wie zur Entdeckung neuer Welten?
Wenn deutsche Studenten nur halb so viele Bücher, ich meine Bücher, nicht Fotokopien, lesen müssten, wie ihre englischen und amerikanischen Kommilitonen – auch dieser Nutzen wäre berechenbar. Und wer solch einen Vorschlag oder solch eine Pflicht für unzumutbar hält, gehört, mit Verlaub, nicht auf eine Universität. Weder als Prof noch als Student.
Die Bildungspolitik, in die ich mich nicht weiter einmischen will, ist das eine. Das andere ist die Politik, sind mehr und mehr ungebildete Politiker, die unsern Reichtum mit Armut verwechseln.
Joseph Brodsky hat vorgeschlagen, die Staatenlenker nach ihren Ansichten zu Stendhal, Dickens und Dostojewski zu befragen. Sehr gut, aber ich würde bescheidener anfangen. Zum Beispiel sollten Landräte in Deutschland nicht mehr eingestellt werden, wenn sie nicht mindestens zwei Bücher von Günter Grass und Martin Walser gelesen haben, Kulturbeamte sollten mit Enzensberger vertraut sein. Heinrich von Kleist müsste Gegenstand zumindest des ersten Staatsexamens der Juristen sein. Finanzbeamte dürften nicht befördert werden ohne einen Kurs über Uwe Timms „Kopfjäger“. Manager ohne Kenntnis von Dante, zumindest des „Inferno“ , sollten als nicht vermittelbar gelten.
Solche Gedankenspiele, wie der Reichtum der Literatur materiellen Reichtum fördert, könnte man endlos weitertreiben. Und für alle Businessmenschen, die stets am Nutzen der Literatur zweifeln, nenne ich nur mal Emile Zolas „Geld“ und Dieter Kühns „Die Präsidentin“ – wer die gelesen hätte, der hätte beste Aussicht gehabt, nicht hereinzufallen auf die große Börseneuphorie vor einigen Jahren und die Versprechungen des Neuen Marktes. Zwei Bücher nur, die Millionen-Verluste verhindert hätten. Beispiele nur, mit denen ich Sie einlade, in diese Richtung weiterzuspinnen mit aller List und Tücke.

11

An dieser Stelle müssen zwei Einwände bedacht werden. Erstens, selbst die breiteste und tiefste Lesekompetenz ist keine Garantie für bessere Menschen oder für bessere Politik. Bekanntlich liebten auch Nazis Goethe und Beethoven. Soldaten fühlten sich kämpfend eins mit Hölderlin. Mao Tse Tung schrieb Gedichte, sogar gute. Das moralische Versagen der gebildeten Leuten vor den Verbrechen ihrer Zeit ist eher die Regel als die Ausnahme – aber immer dann oder nur dann, wenn diese Leute eher einer Ideologie als der Anti-Ideologie der Kunst gefolgt sind.
Deshalb wäre dieser Einwand letztlich kein Argument gegen die Argumente von Schiller, Goethe, Brodsky. Literatur und Kunst sind keine Allheilmittel – und eine geistige Lebensversicherung höchstens dann, wenn sie mit aller Radikalität betrieben und durchlebt werden.
In aller Regel gilt: Wer sich der Lust und den Botschaften von Literatur aussetzt, ist als Unterwerfungsobjekt nicht besonders brauchbar. Menschen, die sich auf Literatur einlassen, sind nicht so leicht zu unterdrücken, politisch zu manipulieren – denn wer liest, der fragt auch und lernt zu zweifeln. Leute mit Phantasie und Neugier, mit der Lust aufs Zuhören sind nicht sehr brauchbar für Generäle, Bürokraten, Ayatollahs und Meinungsvereinheitlicher welcher Ideologie auch immer. Literatur ist in diesem Sinn Widerstand. Darum ist ihr Potential immer auch ein politisches.
Der andere Einwand: Bei den Lesevorschlägen von den Brüdern Grimm bis Emile Zola könnte es so aussehen, als wollte ich die Literatur degradieren zur Lebenshilfe, Bildungshilfe, Bankberatung. Nein! Das können zwar, wenn es gut geht, Nebeneffekte sein, aber ihr Sinn sind diese Effekte keineswegs.
Ich versuche nur, dem Geist der Zeit ironisch zu folgen und den Bewohnern des Schlaraffenlands ihre Schätze zu zeigen und mit Null-Kosten- und Viel-Nutzen-Rechnungen zu imponieren. Und ihnen eine neue Reformidee einzuflüstern, wo doch alles nach Lösungen schreit, die unserm Land auf die Beine helfen könnten: die Erweiterung der allgemeinen Leselust und Lesekompetenz. Diese Reform wäre die billigste, sie kostet fast nichts und bringt keine Umverteilung zu Lasten anderer und keine Verluste.
Die Zumutungen und die Autonomie der Kunst sind ein anderes, kompliziertes Thema, das ich jetzt nur streife. Im Bewusstsein unseres Reichtums, in der Freude darüber, in einem Schlaraffenland der Kultur zu leben, kann auch der Blick für die Eigenart der Kunst wieder schärfer werden. Es gilt das Paradox: Je mehr Kultur, desto schwieriger hat es die Kunst. Weil die Sponsoren, und nicht nur die, eher das Leichte und das Seichte fördern, nicht das Sperrige, Schwierige, Anstrengende.

12

Auch im Schlaraffenland sind keine Illusionen angebracht. Lesen, sich bilden kann anstrengend sein. Aber wie angenehm ist das gegen die Anstrengungen der Zukunft, in der wir begreifen müssen, dass die Demokratie nicht zum Schnäppchenpreis zu haben ist und die Sozialleistungen erst recht nicht. Harte Jahre des Nullwachstums werden kommen, in denen wir weiter für die Milchmädchenrechnungen der Politik der achtziger und der neunziger Jahre bezahlen, für die maßlose Verschuldung, für die Steuerbefreiung der Konzerne und Millionäre, für die 1001 Börsenmärchen, für den Größenwahn der Wirtschaft, für die Unfähigkeit der Manager zu rechnen, für die Sturheit der Gewerkschaften, für den 11. September, für die schamlosen Ausnutzer des Sozialsystems und für die Verdrängung des volkswirtschaftlichen Denkens durch die Heuschreckenplage der McKinsey-Jüngelchen. Wir werden weiter bezahlen müssen für den ganzen Sack voll Dummheiten, die eine Minderheit reich und die Mehrheit sowie die öffentliche Hand arm gemacht und den guten alten Gemeinsinn abgeschafft haben.
In den kommenden Jahren wird sich zeigen, wie wichtig unser Bildungs- und Kunstschlaraffenland für die Gesellschaft ist. Früher brauchte die bürgerliche Welt die Bildung und die Kunst, also die langfristige Horizonterweiterung. Der Neoliberalismus heute, also die kurzfristige Taschenrechnermoral, will keine Bildung, sondern nur die stomlinienförmige Zurichtung auf einen Beruf. Er bekriegt die Kunst, auf diffuse wie fundamentalistische Weise.
Deshalb gibt es keinen Grund, nachsichtig zu sein mit den Quotenidioten, Wortabwürgern und Bildungsvernichtern in den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Mit Politikern, Elektronik- und Medienindustriellen, die Milliarden investiert haben, um unsere Kinder zu geistigen und körperlichen Krüppeln zu machen. Die Feiglinge vor dem Wort, dem differenzierenden Wort, regieren in immer höheren Etagen. Sie wollen uns, was Medienvielfalt, Bildung, Buchmarkt usw. angeht, Schritt für Schritt aufs Weltniveau hinabentwickeln. Diese Entscheidungsträger haben die Freiheit, sich mit unseren Argumenten nicht zu beschäftigen, die nicht in ihr Vierteljahresprofitdenken passen. Wir haben aber die Freiheit, diese Herrschaften, mit soliden Argumenten, als Barbaren, Vandalen, Kinderschänder und Agenten der Verblödung zu bezeichnen. Als Leute von gestern, selbst wenn sie in der First Class sitzen.
Es gibt also viel zu tun zwischen Wall Street und Wilhelmshöher Allee. Aber die größte Sünde wäre es, sich des Reichtums, von dem ich heute nur angedeutungsweise sprechen konnte, nicht zu bedienen, ihn nicht anzuzapfen und mit Freuden auszubeuten für sich und für andere.

Vorlesung Kassel 03.11.2004
(Sprache im technischen Zeitalter, Berlin, April 2005)

Impressum