Friedrich Christian Delius, FCD

0,003 Prozent oder Der Überfluss an Information

0,003 Prozent oder Der Überfluss an Informationen

„Haben Sie das auch im Fernsehen gelesen?“, fragte ein alter Herr in kurzen Hosen an einem milden Sommernachmittag am Chiemsee. Wir standen auf einem Bootssteg, etwa drei Stunden vor Sonnenuntergang, und sprachen über die Unterschiede zwischen Franzosen und Deutschen. Es war eigentlich kein Gespräch, der alte Herr, ein herzkranker Bayer und pensionierter Eisenbahner, wollte mir, ohne mich richtig zu Wort kommen zu lassen, seine Begeisterung für die Franzosen beweisen und holte beinah wahllos neue Fakten, die mir nicht immer neu waren, und Eindrücke, die mir nicht fremd waren, aus seinem Gedächtnis.
Im Fernsehen gelesen – recht hat der Mann, dachte ich. Er hat so viel im Kopf, dass ihm die Quellen seiner Informationen eins geworden sind. Die vielen tausend kulturkritischen Debatten über Buch und Fernsehen, die akademische Pro-und-Kontra-Schaukel über die Gegensätze von Wort und Bild führt er mit seinem schönen Versprecher ad absurdum. Vielleicht hatte der Mann gar nicht so viel im Kopf, aber sein Instinkt traf ins Schwarze: es ist viel, vielleicht zu viel, was er aus Zeitungen, Büchern, Fernsehbildern gespeichert hat. So viel immerhin, dass in seinen Hirnzellen sich die Quellen vermischt, verdichtet und vereint haben, weil ihm die Form der Informationsaufnahme letztlich egal ist. Er liest im Fernsehen, sieht in Zeitungen und hört in Büchern. Nein, verrückt war er nicht, der Franzosen-Fan. Auch dieser Mann kämpft, wie wir alle, mit dem Überfluss. Nicht anders als die große Mehrheit der Zeitgenossen, die morgens in der Zeitung, tagsüber im Radio, abends im Fernsehen, im Internet und in Büchern eine Fülle von Informationen aufnehmen. Oder in weniger ordentlicher Folge ihre tägliche Ration, tausende von Daten, Fakten, Gerüchten, Meinungen sammeln, speichern, sortieren oder allmählich vergessen. Wie der Autor dieser Zeilen. Und wie Sie, die Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift, die sogar noch Überstunden leisten und trotz aller Anregungen und Daten, die Sie heute bereits mit Ihren Sinnesorganen absorbiert haben, noch so freundlich und so entspannt sind, den Blick für drei oder fünf Minuten dieser Kolumne zuzuwenden.
Nicht der Mangel, sondern der Überfluss an Informationen wird zu einem der größten Probleme der westlichen Zivilisation. Jedes Jahr, so haben Forscher der University of California in Berkeley errechnet, werden ein bis zwei Milliarden Gigabyte neuer Daten hervorgebracht. Allein das Internet besteht (Stand: Herbst 2000) aus mehr als 2,5 Milliarden Dokumenten – und täglich kommen 7,4 Milliarden Seiten hinzu. Und wenn man wie die kalifornischen Professoren alle e-mails, Fotos und per Internet erstellten Dokumente mitrechnet, kann man zu der erstaunlichen Feststellung kommen: nur noch 0,003 Prozent aller Informationen werden auf Papier gedruckt, erscheinen überhaupt in der handlichen Form eines Skripts oder Buchs, einer Zeitung oder Zeitschrift. „Die Schwierigkeit wird künftig sein, mit dieser Information effektiv umzugehen“, erklären die Forscher treuherzig. „Informationsmanagement könnte sich als eine der zentralen Herausforderungen herausstellen. Es ist die nächste Stufe der Bildung.“
Bingo! Wir könnten uns damit beruhigen, dass nun auch die Apologeten der Quantität begriffen haben: Die Fähigkeit zur Auswahl ist ein entscheidendes Kriterium für Bildung. „Alle Menschen streben nach Wissen“, sagte Aristoteles, und spätestens seit der Erfindung der Philosophie stand jeder einzelne Mensch vor dem Problem, das im heutigen Jargon Informationsmanagement heißt. Nur wer Daten und Eindrücke gewichten und mit den unendlichen Schöpfungen der Kultur wertend umgehen kann, nur die oder den wagen wir gebildet zu nennen. Ich sehe den herzkranken Eisenbahner am Ufer das Chiemsees stehen, ich beobachte ihn beim Sortieren seines Wissens über Frankreich. Er liebt das, was er Flair nennt, er liebt die französische Sprache. Er hat eine Auswahl getroffen, er hat das herausgefiltert, was er für sein Weltbild braucht. Er ist mit sich im reinen und dankbar, dass ihm jemand zuhört. Er regt sich ein wenig auf, er will mich belehren, er hätte noch viel zu erzählen.
Nein, denke ich, es gibt keinen Grund, vor den anrollenden Flutwellen der Gigabytes in Panik zu geraten. Es gehört ja zu den Denkmoden in unserer vom Reichtum und dessen Kehrseiten geprägten Gesellschaft, über den Überfluss zu klagen, vor allem über den Überfluss an Informationen. Wer nichts Besseres zu tun hat als darüber zu jammern, tut sich keinen Gefallen. „Es gab noch nie so wenige Chancen zur Selbstverdummung wie heute“, sagt der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler.
Mitten in der zivilisatorischen und kulturellen Blütezeit, von der zu profitieren wir das Privileg haben, wird die Frage nie verschwinden, wie wir mit der permanenten Bescherung an Daten, Meinungen und Interpretationen der Welt, die die Künste uns bieten, fertig werden. Zappen, Surfen, Samplen, mit diesen Verben der schnellen Bewegung ist das Medienverhalten, das Sausen über die Oberflächen, schon recht gut beschrieben – es ist das lebensnotwendige Verhalten geworden.
Wir nehmen auf, was zu unseren Interessen und Erfahrungen passt, das war zu Aristoteles Zeiten nicht viel anders als heute. Wir ziehen die Informationen vor, die unsere Meinungen bestätigen. Glücklich ist, wer sortieren kann, was auf ihn einstürzt. Aber selbst da, wo die sogenannte Medienkompetenz herrscht, dringen wichtige Informationen nicht durch, geschweige denn in unser Bewusstsein – weil es immer noch, auch heute in der freiheitlichen Gesellschaft und in den freien Medien genügend Ideologien gibt, mit denen Informationen gesiebt werden.
Machen Sie, wenn Sie mögen, einen Test und fragen Ihre Bekannten nach den wirklichen Preisen in Deutschland für Benzin, Brot und Bus. Wetten, dass so gut wie niemand weiß, dass das Benzin mit den Jahren immer billiger geworden ist? Wer die Preise nämlich miteinander vergleicht und die Steigerungen von 1960 bis 2000, wird feststellen: der Benzinpreis ist nur um 230 Prozent gestiegen, der Brotpreis um 500 Prozent und der für eine Busfahrt im Nahverkehr um das Zehnfache. Wer schafft es, mitten im Überfluss an Informationen nicht zum Ideologen zu werden? Und auch für die simpelsten Wahrheiten empfänglich zu bleiben?
Der alte Mann auf dem Bootssteg schaute nach Westen über das zarte Grau des Sees. Er lief weiter, pünktlich um 18 Uhr ging das letzte Schiff nach Herrenchiemsee. Die spannendsten Fragen stellt man meistens zu spät. Aber ich hätte mit dem, der nun zu König Ludwig fuhr, auch darüber nicht reden können.

(Das Plateau 63, Februar 2001)

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