Friedrich Christian Delius, FCD

Im Schlaraffenland der Geschichte

Im Schlaraffenland der Geschichte

„Ehrlich gesagt, ich beneide euch um eure Geschichte, auch die schaurige“, sagte ein Freund aus der Schweiz, mit dem ich an einem kalten, sonnigen Wintertag um den Lietzensee im westlichen Berlin spazierte. „Die deutschen Katastrophen, Verbrechen und Turbulenzen der letzten hundert oder zweihundert Jahre haben euch allen, haben jeder Familie tragische, krumme und verrückte Geschichten beschert, aus denen ihr Autoren nur zu schöpfen braucht. Jeder Weltkrieg eine Fundgrube, der Kalte Krieg eine noch unerschlossene Goldmine, jeder deutsche Großvater literaturtauglich, jeder Vater ein Fanatiker oder ein Feigling oder beides – und dann die deutschen Frauen, wie viele Widersprüche, wieviel unentdeckte Geschichtslasten in ihnen schweben!
“Der Freund geriet fast ins Schwärmen. Dabei hatte ich nur in groben Zügen über meinen Großvater gesprochen, der im ersten Weltkrieg U-Boot-Kapitän war, ehe er 1921, nach einer psychosomatischen Lähmung, sich religiös erweckt sah und zum Volksmissionar und kämpferischen Pietisten wurde. Wir waren eine Straße entlanggelaufen, auf deren Bürgersteig-platten die Spuren der Granatsplitter und Kugeln aus den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs noch zu sehen sind. Dann kamen wir an einem Haus vorbei, in dem eine Ärztin gewohnt hat, deren Mann als Widerstandskämpfer von den Nazis hingerichtet wurde, und die bis in die sechziger Jahre um eine Entschädigung kämpfen musste. Eigentlich aber wollten wir über die hysterische Debatte um die militante Vergangenheit eines Ministers während der Studentenbewegung sprechen.
Ja, es stimmt, wir leben einem Schlaraffenland für Schriftsteller, für Publizisten und Historiker – und für Hysteriker. Bei uns ist immer was los. Bei uns wird keiner die Geschichte los. Wir gönnen uns keine Ruhe beim Streit um die Vergangenheit. Wir sind auf historische Dramen abonniert. Die Politik regiert in alle unsere Biographien hinein. Jeder Deutsche jeder Generation ist auf jeweils andere oder doch wieder ähnliche Weise von der Geschichte geprägt, berührt, erhoben und geschlagen – oder hat, in kleinerer oder größerer Rolle, an irgendeinem Rädchen mitgedreht.
Der See war zugefroren, wir erholten uns an der klaren kalten Luft, und um uns herum tobte die Debatte um die jüngste Geschichte der Bundesrepublik. Nach dem Historikerstreit der achtziger Jahre, dem Vereinigungsstreit der frühen neunziger, dem Stasistreit der mittleren neunziger, den Walser-Bubis-Streit der endneunziger Jahre nun der neue Historikerstreit über 1968. Wenn wir nicht selber gerade Geschichte machen, streiten wir um Geschichte. Keine Gelegenheit wird ausgelassen, mit viel Aufregung, Pathos und Druckerschwärze um die eine oder die andere Vergangenheit zu debattieren. So viel Historie, die uns keine Ruhe lässt, weil so viel Blut daran klebt oder weil sie nicht platt mit Plus oder Minus zu bewerten ist. Nein, es ist kein schlechtes Zeichen, wenn die Wogen über 1968 und die Folgen wieder einmal überschwappen. Wenn öffentlich um die Deutungshoheit über die jüngste Geschichte gekämpft wird. So lässt sich lernen, was Walter Rathenau, frei nach Napoleon, sagte: Die Politik ist das Schicksal. Aber noch weniger als in anderen Debatten gibt es hier Objektivität und Neutralität. Jede und jeder ist Partei, hat alte oder frische Rechnungen zu begleichen. Jede kocht ihr, jeder kocht sein Süppchen. Aber in einem, sagte ich meinem Schweizer Freund, sind sich alle offenbar einig: Es sind immer nur die Linken, die ehemaligen Studenten und Demonstranten, die sich rechtfertigen sollen für das, was sie damals getan oder nicht getan und vielleicht verdrängt haben. Gut, es schadet nicht, immer mal wieder, aus aktuellen Anlässen oder in stilleren Beichtstunden, Rechenschaft über vergangene Taten, Untaten oder Verdienste abzulegen, aber warum immer nur die Minderheit und nie die Mehrheit?
Hier zu Lande wird man einen Mann wie McNamara wohl vergeblich suchen, der in den sechziger Jahren als Verteidigungsminister der USA den größten Anteil an der Expansion des Vietnamkriegs hatte – und zwanzig Jahre später öffentlich bekannte: dieser Krieg sei ein gewaltiger Fehler gewesen. Er genierte sich nicht, mit großer Verspätung, aber immerhin, eine Erkenntnis zuzugeben, die seine demonstrierenden Gegner weitaus früher hatten und weitaus teurer bezahlt haben. Irrtümer sind kein Privileg der Linken. Mehr noch: die haben sogar oft das Pech, zu früh Recht zu haben und dafür geprügelt, schikaniert, ausgegrenzt – und deswegen borniert zu werden. Dass die Mehrheit der Gesellschaft manchmal ein, zwei, drei Jahrzehnte braucht, um diese Einsichten nachzuholen, ist normal. Aber es sollte auch normal sein, Fehler und Verbohrtheiten nicht nur auf der einen Seite zuzugeben.
Wie angenehm wäre es also, um beim Thema 68 zu bleiben, mal einen Vertreter des Verfassungsschutzes mit der Erklärung zu hören, es sei falsch gewesen, Waffen in die linke Szene zu geschleust und V-Männer zum Anstiften von Gewalt eingesetzt zu haben. Oder einen Chef aus dem Springer-Konzern, vielleicht sogar der Bild-Zeitung: Es sei unrecht gewesen, die demonstrierenden Studenten mit pausenlos abgefeuerten Schimpfworten denunziert und als Untermenschen gezeichnet zu haben. Oder Politiker: Der Vietnamkrieg war Massenmord – die Häuserbesetzer haben zu Recht gegen die falsche Baupolitik demonstriert – natürlich haben wir die Umweltpolitik viel zu spät erkannt, und so weiter. Es müsste ja nicht gleich in Entschuldigungen ausarten, aber mit solchen mannhaften oder tapferfraulichen Erklärungen ließe sich durchaus demokratischer Reife beweisen.
Stattdessen erleben wir bei solchen Gelegenheiten einen Aufstand der Schein-heiligen und Rechthaber. Ein beliebtes Gesellschaftsspiel, bei dem flotte Journalisten sich auf den Feldherrenhügeln ihrer Laptops über behelmte Demonstranten der siebziger Jahre erheben und erregen, ohne auf die schrecklich gewaltsame Atmosphäre jener Zeit einzugehen. Noch schlimmer solche Politiker, die all ihre Versimpelungskunst aufbieten, um die Geschichte in ihrem Sinn zu fälschen und für ihre Strategie zu missbrauchen.„Du siehst, unsere tollen und tragischen Biographien, unsere historischen Karrieren als Hauptverbrecher Europas schützen viele Leute immer noch nicht vor großen Torheiten. Und vor Irrtümern sowieso nicht.“ „Wenigstens gehn euch die Themen nie aus. Nehmt das als Chance, als Geschenk!“
Zu seinem Trost sprachen wir lange über die seelischen Abgründe von Bankiers und Bergbauern. Wir gingen am ehemaligen Reichskriegsgericht vorbei, und ich sagte nichts über Deserteure und so genannte Wehrkraftzersetzer, die in diesem Gebäude zu Tausenden zum Tode verurteilt wurden. Hinter dem See, neben dem Funkturm ging die helle Sonne unter. „Was ist das für ein Bau?“, fragte der Freund.

(Das Plateau 64, April 2001)

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