Friedrich Christian Delius, FCD

Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?

Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?

Einen Punkt hab ich noch: Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?, fragte mich eine Studentin, und ich sagte ohne zu zögern: Nein.

Aber Sie haben doch irgendwo geschrieben, jeder Mensch, jeder Konflikt, jedes Ereignis könne zum Gegenstand der Literatur werden, antwortete sie gegen Ende eines längeren Interviews, das sie für ihre Masterarbeit mit mir führte.

Ja, dabei bleibe ich. Es gibt nichts, was mit sprachlicher Kunst nicht erfasst werden könnte, entgegnete ich der jungen Frau, die ich hier E. nennen möchte. Dazu gehören von mir aus auch bekanntere oder unbekanntere Politikerinnen und Politiker. Irgendwelchen Stoff, irgendwelche Konflikte, irgendwelche Fallhöhen liefern die immer, aber es ist ja ein allgemeiner Irrtum, Literatur entstünde durch den Stoff, die Konflikte, die Fallhöhen, die Handlung, durch eine oder mehrere interessante, irgendwie besondere Hauptfiguren. Stoffe liegen ja immer noch buchstäblich auf der Straße, jedes Leben, jede Familie, jede Firma ist voll von Geschichten, jede Handlung lässt sich mit schrillen, raffinierten Einfällen effektvoll aufladen, Hauptfiguren in ein bestimmtes Licht rücken, aber das alles reicht ja noch lange nicht, um Literatur zu werden. Entscheidend ist etwas ganz anderes, es ist die Perspektive auf diesen Stoff, also eine ästhetische Entscheidung, und es ist die Sprache, die man für diese Perspektive findet. Ohne subjektive, unverwechselbare Sprache kommt keine literarische Kunst zustande. Imre Kertész hat mal gesagt: „Im Roman sind nicht die Tatsachen das Entscheidende, sondern allein das, was man den Tatsachen hinzufügt.“ Die Betonung liegt auf dem „allein“!

Verzeihen Sie, meinte Frau E., ein schönes Zitat, aber ganz so blöd sind wir heutigen Studenten auch nicht. Ich habe sehr wohl gelernt, Literatur nicht mit Handlung, dem Stoff eines Buches zu verwechseln.

Das freut mich, aber die meisten Leute, ich meine die lesenden Leute, sogar viele Kritiker, machen sich nicht klar, wie hoch der Anteil der meistens ja sehr bewusst gewählten, oft hart erarbeiteten Sprachkunst ist. Die sprachliche Spannung zwischen zwei Punkten, die Dichte, die Neuheit der Sätze, die Genauigkeit der Beobachtung und des sprachlichen Ausdrucks, und im Idealfall das Poetische, also das Schöne, Überraschende, Bildliche, Mehrdeutige, die Strahlkraft der Wörter …

Das ist mir vom Prinzip her klar, fiel mir die Studentin ins Wort, aber das schließt doch nicht aus, dass jemand auch für eine Figur aus der Politik die passende Sprache und die passende Perspektive findet.

Ich will nicht so töricht sein und das völlig ausschließen, sagte ich. Es kann schon sein, dass andere Autoren als ich oder andere Autorinnen mit Geschick und Glück auf diesem Felde etwas gelingt, aber ich fürchte, da wird nicht viel mehr zu finden sein als die satirische oder die biografische Lösung, aber das sind ja noch keine ausreichenden Romanlösungen. Satirisch auf politische Figuren loszureiten oder an einer mehr oder weniger bekannten Biografie entlangzuerzählen, das ist eine leichte Übung, das mag, wenn es auf intelligente Weise gelingt, gutes Handwerk sein, aber keine literarische Kunst. Denn dazu gehört immer auch das Ungesagte, ein Geheimnis, vor allem das Einverständnis zwischen Autoren und Lesern, sich gemeinsam auf etwas Erfundenes einzulassen.
Das Problem mit historischen Figuren ist nun aber, dass sie nicht erfunden sind und man relativ viel über sie weiß, dass sie in vielerlei Hinsicht vordefiniert sind. Sie laufen oft sogar als ihr eigenes Klischee herum, jeder hat seine Meinung und seine Vorurteile über sie. Doch: Leser wollen nicht lesen, was sie schon wissen, Autoren wollen nicht über etwas schreiben, was allgemein bekannt ist. Und bei einer prominenten Figur noch eine Lücke, eine originelle Perspektive zu finden und wirklich etwas Spannendes, etwas Neues, Widersprüchliches oder intelligent Unterhaltendes oder gar Geheimnisvolles herauszuholen aus dem Material, das eine Bundeskanzlerin so bietet, und speziell diese auf den ersten Blick so stocknüchterne und spannungsarme Kanzlerin, das scheint mir unmöglich. Deshalb bleibe ich dabei: für mich ist Angela Merkel keine Romanfigur.

Aber Sie sind doch ein politischer Autor, warf Frau E. ein, Sie haben uns in so vielen Büchern politische Zusammenhänge beschrieben und erklärt, vom deutschen Herbst zur deutschen Einheit und zur deutschen Familie und so weiter. Sie lassen sich feiern als Chronist der Bundesrepublik, da müssten Sie doch auch in der Lage sein, da ist es doch eine vergleichsweise leichte und naheliegende Aufgabe für Sie, die amtierende Kanzlerin mit all ihren Widersprüchen zu durchleuchten.

Langsam!, sagte ich. Erstens gibt es in der Kunst keine leichten Aufgaben, auch nicht in der Romankunst. Zweitens müssten wir klären, was ein politischer Autor ist, ich wehre mich seit Jahrzehnten gegen diesen Stempel, auch mit politischen Argumenten, aber lassen wir das mal für den Moment. Drittens habe ich das Etikett des Chronisten nie für mich beansprucht, es ist als Kompliment ganz nett gemeint, aber ziemlich falsch. Nach meiner Vorstellung jedenfalls notiert ein Chronist die Fakten sauber und ordentlich hintereinander, und wenn was Neues passiert, hat er das qua Amt getreulich festzuhalten. Romanschreiber sind keine solchen Beamten, sie produzieren Unruhe und Verstörung. Romanschreiber tun viel mehr als Chronisten, sie wirbeln die Fakten durcheinander, vermengen sie mit Fiktion und setzen sie neu zusammen. Das Bild passt also gar nicht. Der Chronist muss objektiv sein, und der Schriftsteller subjektiv, radikal subjektiv. Er ist wie jeder Künstler Subjektivist durch und durch, was eine hohe Sensibilität für das sogenannte Objektive, für seine Umwelt einschließt. Das, was sie oder er herstellt, kann nur ein einziger Mensch auf der Welt so herstellen, nämlich sie oder er, mit einer eigenen Perspektive, eigenen Sprache, mit eigenem Stil. Ohne ein großes und demütiges Ich geht gar nichts. Der Kern der Sache muss mit mir zu tun haben.

Aber so weit können Sie doch gar nicht auseinander sein, Pfarrerstochter Merkel und Pfarrerssohn Delius …

Ganz schön forsch sind Sie, Frau E., das gefällt mir. Aber so schnell lass ich mich nicht verkuppeln, außerdem bin ich mit meinen Argumenten noch nicht am Ende. Ihre Frage ist noch lange nicht ausreichend beantwortet. Wenn Sie noch Zeit haben, können wir hier gern ein bisschen weiterfechten. Gut? Also, was ich sagen wollte: Mein Ich und die Kanzlerin, ich sehe da keine Brücke, also keine produktive Perspektive, also keine Sprache. Bei aller Liebe zum Grundgesetz, so weit geht mein staatsbürgerliches Bewusstsein nicht, dass die amtierende Kanzlerin meinem Ich nahe oder zur Herzenssache geworden wäre, auch nicht zum Anker oder zur Hoffnungsträgerin, als letzte Protestantin zwischen lauter Oligarchen, im gegenwärtigen hysterischen Männergerangel zwischen Trump und Putin und Erdogan und Orbán und so weiter.

Das ist Ihre Sicht, sagte E., Sie sind nun mal ein, wie soll ich sagen, älterer Schriftsteller, der schon mit etwas Distanz auf die Gegenwart schaut, mit Gelassenheit oder auch Herablassung, was weiß ich. Aber ich stecke da mitten drin, in dieser Gegenwart, und seit ich denken kann, so ungefähr, gibt es immer diese Kanzlerin, tagaus tagein und alle Jahre wieder, dunkel erinnere ich mich an Schröder und an die uralten Altkanzler. In dieser Frau bündeln sich alle Probleme, die wir haben, und sie demonstriert uns, oder mir, besser gesagt, dass sie selber nicht weiß, wo es langgeht, welchen Kurs sie fahren möchte und welchen sie wirklich fährt. Irgendwas rebelliert in mir gegen die ewige Merkel, irgendwas stimmt an ihr und lässt mich vorsichtig Vertrauen fassen und irgendwas stört mich wahnsinnig und macht mich sehr misstrauisch. Ich hab keine richtigen Argumente, die ganz rechten und die ganz linken Ablehnerargumente sowieso nicht. Aber am schlimmsten finde ich die Meinung: Sie ist ja immer noch die beste weit und breit, nach ihr wird alles noch schlimmer. Das ist doch ein ganz fieser Misstrauensantrag an uns, an die Jugend!

Das verstehe ich, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Und nun erhoffen Sie von der Literatur, dass sie Ihnen das Phänomen dieser Machthaberin erklärt? Was die Journalisten nur ansatzweise schaffen, sollen die Schriftsteller richten. Das gefällt mir, dass Sie an uns solche Ansprüche stellen. Und so schlecht ist unsere Zunft bei dieser Tätigkeit gar nicht, die Welt auf differenzierteste Weise aufzublättern.
Literatur kann alles, behaupte ich gern, aber nicht sofort. Ich will jetzt gar nicht damit kommen, wie lange es gedauert hat, bis nach den diversen historischen Ereignissen Tolstois „Krieg und Frieden“, Grimmelshausens „Simplicissimus“, Fontanes „Vor dem Sturm“, Remarques „Im Westen nichts Neues“ oder Döblins „November 1918“ erschienen sind oder „Der Mann ohne Eigenschaften“ und so weiter. Diesen Abstand braucht es nicht nur bei großen Themen und bei Weltliteratur. Sie haben mich gefragt, also spreche ich von mir und meinen banalen Problemen. Auch bei scheinbar viel einfacheren Sujets gibt es dies produktive Zögern, man hat Ereignisse, Figuren, Stoffe im Kopf – und wagt sich doch nicht an die Arbeit.
Und das aus guten Gründen. Allem Schreiben, das vergessen Leser gern, geht nämlich ein längeres oder langes Nichtschreiben voraus. Unbewusste oder halbbewusste oder halbreflektierende Abwägungsphasen, ob ein mögliches Sujet wirklich projekttauglich ist und welche die passende Form dafür sein könnte. Außerdem gibt es so etwas wie Respekt vor dem möglichen Gegenstand, der eine allzu schnelle Annäherung verbietet.

Aber da fällt mir ein, dass Sie sich auch nicht immer an den zeitlichen Abstand halten, an die Abstandsregel von Tolstoi, Döblin und den andern. „Die Birnen von Ribbeck“, im November 1989 fällt die Mauer, im Mai 1990 lesen Sie schon bei der Gruppe 47 aus dem Manuskript, bei der allerletzten Tagung, und schon Anfang 1991 ist das Buch da. Schneller geht‘s doch nicht.

Da haben Sie mich erwischt! Ich gebe alles zu, antwortete ich, aber vergessen Sie nicht, das ist kein Roman über die deutsche Einheit, sondern die Geschichte eines Dorfes und seines berühmten Birnbaums, auf gut 70 Seiten. Ein kleiner literarischer Zwischenruf, der den Herren Tolstoi und Döblin nicht mal den großen Zeh küssen kann – schiefes Bild, aber Sie wissen, was ich meine. Also eine Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Zurück zu Merkel, sagte Frau E., wenn Sie erlauben.

Alle Fragen sind erlaubt an meinem Tisch, aber wir sind ja bei Merkel. Als ich nach Ribbeck fuhr, habe ich mir doch nicht vorgenommen, über „die deutsche Einheit“ oder über Helmut Kohl und Lothar de Maizière zu schreiben – sondern die Dorfgeschichten rund um die verschiedenen Birnbäume zu sammeln, zu begreifen und neu zu fassen. Als alle Leute rund um die Uhr über das Für und Wider und Warum und Wie der deutschen Einheit disputierten, schwatzten, schrieben, agitierten, und sich so wichtig dabei fühlten und national aufgeplustert haben, dachte ich: Geh zu den Birnen, red mit den Leuten, erfasse dies Momentum der Geschichte aus der Perspektive eines Traktoristen. Für einen Merkelroman fehlt zum Beispiel ein Traktorist, und es fehlt noch viel, viel mehr.

Birnen zum Beispiel.

Genau, etwas Bildliches, Allegorisches, Mythisches, Leitmotivisches im Hintergrund, ohne das kommt kein guter literarischer Text aus. Und wo soll das sein bei der Figur, die Sie gerne im Bernstein der Literatur verewigt sehen möchten? Nein, ein Merkelroman, niemals! Da stellen sich einfach keine Bilder ein. Glauben Sie mir, die Gattung der Kanzlerromane ist mit guten Gründen ziemlich unterentwickelt. Es gibt, wenn wir mal im deutschen Sprachland bleiben, soweit ich weiß, keinen nennenswerten Adenauerroman, keinen Brandtroman (außer zwei guten Büchern seiner Söhne, aber das zählt nicht), keinen Schmidt- und keinen Kohlroman, und das ist auch gut so.

Dann könnten Sie doch eine neue Gattung erfinden, setzte E. nach.

Es ehrt mich, dass Sie mir auch das zutrauen, sagte ich. Aber Herrscher und Regierende taugen höchstens als Nebenfiguren, das lehrt die Literaturgeschichte. Shakespeare und andere Klassiker und die lateinamerikanischen Diktatorenromane sind die Ausnahmen. Oder aus der Diener-Perspektive mag einiges gehen, vielleicht.

Genau, da könnten Sie doch ansetzen! Den Roman über den Computererfinder Zuse haben Sie doch auch geschrieben. Eine ziemlich bekannte-unbekannte Person, mit der Sie in aller literarischen Frechheit umgesprungen sind.

Mag sein, dem hab ich sogar eine Liebschaft angedichtet. Aber er war kein Bundeskanzler, nur der wichtigste oder einer der wichtigsten Erfinder des Computers, in der Menschheitsgeschichte wahrscheinlich bedeutender als irgendwelche Kanzler inclusive Frau Merkel.

Warum, meinen Sie, funktioniert ein Roman bei Erfindern und nicht bei Politikern?

Ich würde hier nie im Plural sprechen. Unter den Erfindern hab ich mir ja nicht einen beliebigen ausgesucht, sondern einen, der Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre in meinem Nachbardorf an den modernsten Rechnern arbeitete, während ich, drei Kilometer Luftlinie entfernt, lesen, schreiben, rechnen lernte. Dieser Zufall hat mich inspiriert. Ein Genie um die Ecke, das ich früher nicht wahrnehmen konnte und das in Deutschland erst sehr spät, viel zu spät wahrgenommen und bekannt wurde. Aber entscheidend war, dass er sich als eine Art Faust fühlte, ein etwas spießiger Faust allerdings. Nachdem ich ihn mal flüchtig kennengelernt und seine Autobiografie gründlich gelesen hatte, war ich bei aller Bewunderung neugierig auf seine Brüche und Widersprüche und wie er sich durch die Nazizeit getrickst, die Beharrlichkeit bewahrt, den faustischen Ernst mit viel Selbstironie ausbalanciert hat. Ich war neugierig auf diesen Mann, deshalb hab ich ihn eine Sommernacht lang auf einen hessischen Berg gesetzt, auf den Stoppelsberg zwischen Bad Hersfeld und Fulda, oberhalb unserer einstigen Dörfer, und habe ihn am Ende seines Lebens reden, erzählen, resümieren, schwadronieren lassen und ihm nur einen stichwortgebenden Journalisten, eine mathematische Niete wie ich, an die Seite gesetzt. Ich habe ihn zu einer Romanfigur machen können, gerade weil ich ihn nicht nur als Erfinder und Genie gesehen habe – immerhin hat er als erster seit Leibniz die Null-und-Eins-Rechnung wieder entdeckt, ohne die keine der Millionen und Milliarden elektronischen Maschinen und Maschinchen heute laufen würde. Also nicht nur als „der Erfinder“ hab ich ihn gesehen, sondern als Berliner Faust, als Liebhaber einer englischen Mathematikerin des 19. Jahrhunderts. Alles aufgefangen in einem hessischen Heimatroman.

Eine Frage: Wie wäre das, Frau Merkel in einem mecklenburgischen Heimatroman? fragte Frau E. und setzte mich einen Moment in Erstaunen.

Gute Idee, das wäre eine Überlegung wert! Wenn, dann könnte man da ansetzen.

Und würden Sie ihr auch eine Liebesgeschichte andichten?

Das wäre geschmacklos. Nicht my cup of tea. Ich würde ihr gar nichts andichten. Ich würde sie gar nicht zum Gegenstand machen, sie gar nicht anfassen.

Weil sie eine Frau ist?

Nein, da habe ich keine Berührungsängste. Mit der Frauenperspektive, gibt es das überhaupt?, auch „die“ Frauenperspketive gibt es nicht, hab ich nach „Mogadischu Fensterplatz“, „Bildnis der Mutter als junge Frau“ und „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ einige Übung. Das Problem ist, dass Frau Merkel sehr viel Kritik, Häme und Ablehnung abbekommt, gerade weil sie eine Frau ist. Und dass sie trotzdem viel zu wenig gründlich, rücksichtslos kritisiert wird, gerade weil sie eine Frau ist.

Das ist doch ein toller Widerspruch, der müsste Sie doch reizen als Autor. Literatur kann alles, haben Sie gesagt. Und wenn Sie Herrn Zuse auf den Stoppelsberg in Hessen setzen und seine Geschichte und sein Innerstes aufblättern können, dann können Sie auch eine Kanzlerin auf die Steilküste von Rügen setzen und ihre Geschichte und ihr Innerstes aufblättern.

Nein, ich will es nicht. Dies Sujet hat mit meinem Innersten nichts zu tun, und deshalb lohnt sich der große Aufwand nicht, einen neuen Roman, einen möglichst sehr guten, unverwechselbaren Roman in die Welt zu setzen. Vergessen Sie nicht, alle meine sogenannten politischen Romane haben ein mehr oder weniger verborgenes subjektives Motiv, ohne das ich die Kraft für eine lange Schreibarbeitszeit gar nicht gehabt hätte. Bei jedem Projekt muss ich Teil meiner Figuren werden, mit Phantasie und Einbildungskraft. Der Flaubert-Satz „Madame Bovary, das bin ich“ mag für Leser aufregend oder frivol klingen, für Autoren ist er eine Banalität. Mein Ich steckt im U-Boot-Kapitän ähnlich wie im Ribbecker Bauern, in der schwangeren Frau in Rom ebenso wie im Computer-Erfinder Zuse, in einem Posaunisten, der in Israel eine Barrechnung mit „Adolf Hitler“ unterschreibt, in einem Terroristen, der seine eigene Beerdigung und Himmelfahrt phantasiert oder wie bei der „Liebesgeschichtenerzählerin“ in einer konservativen Frau, die sich im reifen Alter endlich emanzipieren möchte.

Wenn Sie das alles können, unterbrach Frau E., dann können Sie doch auch …

Je mehr Sie nachbohren, Frau E., desto mehr Gegenargumente fallen mir ein. Also noch eins. Und damit müssen wir nun doch endlich zur Politik kommen.
Ich will solch einen Roman nicht schreiben, weil ich als Autor ja immer auch Richter über meine Figuren bin. Ein Richter, der zwar keine Urteile fällt, aber doch Urteilsgründe abwägt. Ich müsste literarisch neutral sein, obwohl meine politischen Urteilsgründe sich überwiegend im Negativen summieren.
Ich geriete schreibend ins Urteilen über eine Frau, die nach allem, was ich weiß, nur zweimal oder immerhin zweimal wirklich mutig gewesen ist. Einmal, als sie öffentlich ihren moralisch verkommenen Parteivorsitzenden Kohl angriff und seinen Rücktritt einläutete. Zum zweiten Mal, als sie im richtigen Augenblick den richtigen Satz sagte „Wir schaffen das“, ohne allerdings zu merken, dass sie diesen mit weiteren richtigen Sätzen und konkreten Plänen hätte ergänzen müssen. Das war die Kür, da war sie gut. Was sie sonst an Leistungen vollbracht hat, war Pflicht, das hätte jeder halbwegs intelligente, aufs Grundgesetz vereidigte Kanzler getan, also den Mindestlohn akzeptieren, um Frieden in der Ukraine ringen, und so weiter.
Aber es gibt auch ein erhebliches Minuskonto in meinen Augen, und da will ich gar nicht mit dem Üblichen anfangen, dem Hofieren de Autoindustrie und der Banken. Viel mehr bekümmern mich sogenannte Nebensachen, etwa dass sie die Partei des Mafiapolitikers Berlusconi nicht aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei ausgeschlossen hat und die halbfaschistische Partei des Dreivierteldiktators Orbán auch nicht, sondern mit diesen Kumpanen weiter einträchtig europäische Politik macht und damit unsere Grundwerte sabotiert. Das kann ich ihrer CDU und ihr nicht verzeihen – und erst recht nicht, dass die Christdemokraten unter ihrer Oberführung gerade eben im Januar Antonio Tajani, den Intimus des korruptesten Politikers Europas, dieses Berlusconi, zum europäischen Parlamentspräsidenten erhoben haben. Ich weiß, dass ich nicht personalisieren darf und auch andere neben ihr da mitentscheiden, trotzdem ist sie für solche Kardinalfehler hauptverantwortlich. Einem Menschen, dem ich solche sogenannte Kleinigkeiten nicht nicht verzeihen kann, kann ich nicht zur Romanfigur machen, mit Groll kann ich nicht schreiben, Groll und Empörung erschweren Empathie.
Und das wäre ja nur ein Punkt. Was gäbe es nicht alles zu sagen zur vermurksten Energiewende und zur Investitionsverweigerungspolitik der Kanzlerin und ihres Finanzministers, für die Sie, Frau E., und Ihre Generation noch teuer bezahlen werden. Nicht zu vergessen, wie die Bankenkrise der deutschen und französischen Banken, die das Spekulieren so maßlos übertrieben haben, erst zu einer Eurokrise umgelogen und dann aus wahltaktischen Gründen, es standen Wahlen in Nordrhein-Westfalen an, monatelang das Eingreifen verhindert wurde, bis sich die Schulden derart vervielfachten, dass die Griechen bis in alle Ewigkeit auf keinen grünen Zweig mehr kommen werden. Ein Streitpunkt für Experten, ich weiß, aber diese deutsche Mitschuld ist unbestritten, nur für Deutsche ein Tabu. Allein dies Detail würde einen Roman zum Hinken bringen.
Sie sehen, liebe Frau E., wie man in die Teufelsküche des Bewertens, Urteilens, des Pauschalisierens kommt, wenn man nur anfängt, sich auf die von Ihnen so gewünschte Romanfigur einzulassen. Man gleitet ins politische Gegeneinander, ins platte Argumentieren, ins Talkshow-Beißen und in die Rechthabersprache hinein und hinaus aus dem diffenzierten, behutsamen Sprechen und hinaus aus der Literatur sowieso. Dabei hab ich noch gar nichts gesagt zu dem Merkelschen Leitmotiv von der „marktgerechten Demokratie“, während unsere Verfassung nach meiner Erinnerung doch einen demokratiegerechten Markt fordert, nicht umgekehrt. Oder das seit fünfzehn Jahren verweigerte, von ihr erst begrüßte, dann auf Druck der CSU abgelehnte Einwanderungsgesetz, obwohl wir seit fünfzig Jahren Einwanderungsland sind.
Genug davon. Auf dieser Ebene könnten wir endlos weiterreden und streiten von mir aus. Aber dazu habe ich keine Lust. Keine politische, keine literarische und persönliche. Nur noch ein passendes Zitat im Kopf, wieder von Imre Kertész: „Kunst ist nicht dazu da, Menschen zu verurteilen, sondern den Augenblick neu zu erschaffen.“

Okay, ich gebe auf.

Schade. Aber haben Sie Dank für Ihre Hartnäckigkeit beim Fragen und Nachbohren, so haben wir uns doch einige Gedanken aufgewirbelt. Warten Sie, packen Sie noch nicht zusammen. Eins geht mir noch nach, Ihre Bemerkung vorhin, die Kanzlerin auf die Kreidefelsen bei Rügen zu setzen, das hat was. Da hat es bei mir gefunkt, da hat sich gleich ein Bild eingestellt, aus dem etwas werden könnte, man müsste nur mutig von der Gegenwart in die Zukunft springen, Arbeitstitel: „Die Altkanzlerin auf den Kreidefelsen im Jahr 2033“, nur mal so, als Beispiel. Sie könnte am berühmten Königstuhl auf Rügen sitzen, hoch über der Ostsee, den Wald im Rücken. Oder, das wäre noch mutiger, an der Stelle, wo Caspar David Friedrich sein berühmtes Kreidefelsengemälde lokalisiert hat, an den Wissower Klinken, dann könnte man das mit deutsch-romantischen Untertönen verbinden. Wissen Sie, ich wollte schon lange mal einen Roman schreiben, der Friedrichs Bild zum Mittelpunkt hat und trotzdem im Heute oder in der Zukunft spielt … aber mit einer Altkanzlerin in ihrem Wahlkreis? Nein, nein, dreimal nein, ich mach das nicht.

Ja, ich hab verstanden.

Aber Sie, Frau E., Sie schreiben doch auch, vermute ich. Sagen Sie nichts, das schließe ich aus Ihren behutsamen und mutigen Fragen. Vielleicht werden Sie ja eines Tages diesen Roman schreiben, den Sie sich so wünschen. Es war doch auch Ihre Idee mit dem mecklenburgischen Heimatroman. Bitte, machen Sie das, halten Sie ihn fest, den Bewusstseinsstrom der Altkanzlerin auf einer Höhe irgendwo in Vorpommern oder Mecklenburg in der Zukunft, es muss ja nicht das Jahr 2033 sein. Sie fühlen sich von dieser Frau bedrückt, eingeengt und trotzdem geschützt, oder wie auch immer Sie das empfinden, aber Sie empfinden etwas, das ist Ihr persönliches Thema, also werden Sie sich selber da ranwagen.
Nein, Sie müssen jetzt nichts sagen, Sie haben alle Freiheit bei diesem Projekt, ich werde Ihnen jedenfalls nicht in die Quere kommen, ich schreibe das nicht.
Die Literatur blüht auch in Zukunft, da hab ich keine Bange. Und vielleicht kommt nach Ihnen ja noch jemand und schreibt in zweihundert, dreihundert Jahren – wie Alfred Döblin mit dem Jahrhunderteabstand den „Wallenstein“ – den Roman über unsere Epoche mit einer Kanzlerin als Haupt- oder Nebenfigur, die lächelnd über die Insel Rügen wandert. Ein Roman über eine Frau, die, abgelenkt vom Kleinkrieg mit Urbayern und von urarabischen Konflikten, völlig übersieht, wie Europa im 21. Jahrhundert zur chinesischen Provinz wird. Eine Autorin oder ein Autor mit chinesischem Hintergrund wird sie vielleicht dafür loben, jemand mit mitteleuropäischen Wurzeln wird sie vielleicht dafür kritisieren, soweit die Zensur das zulässt. Ich sage: vielleicht, vielleicht. Wir wissen es nicht. Wir wissen ja noch nicht einmal, in welcher Epoche wir leben. Es kann noch viel passieren zu unseren, zu Ihren Lebzeiten. Das Mögliche ist unser Feld, und das Faktische hat in der Literatur dem Möglichen zu dienen, nicht umgekehrt. Ich danke Ihnen, dass Sie mich aus der Reserve gelockt haben. Ich danke Ihnen und Ihrem Gerät fürs Zuhören. Und, noch etwas, fahren Sie mal zur Inspiration auf die Kreidefelsen von Rügen!

(aus: Sinn und Form, Heft 3/2017)

 

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