Friedrich Christian Delius, FCD

Blinder Passagier

Blinder Passagier

Die „Landshut“ als literarischer Ort

Warum sind Sie in die „Landshut“ gekrochen, Herr Delius?
Diese Frage stellte mir neulich eine Leserin, als die Nachricht von der „Heimkehr“ des seit 1977 berühmten, entführten, eroberten, nun schrottreifen, einstigen Lufthansa-Flugzeugs auf deutschen Boden verbreitet wurde. Meine Antwort war ungefähr diese:

Es stimmt, vor knapp dreißig Jahren bin ich in diese Maschine gekrochen, wie Sie sagen, die vor vierzig Jahren der Schauplatz des spektakulärsten deutschen Dramas der Nachkriegszeit gewesen ist. Für einen Schriftsteller gab es viele Gründe, in solch ein Flugzeug zu steigen oder zu kriechen, im Oktober 1977 für 91 Geiseln 107 Stunden ein Ort der Hölle und doch Mitte der achtziger Jahre schon halb vergessen. Ohne Ticket ging ich da rein, ohne Genehmigung, freiwillig, ein blinder, aufmerksamer Passagier, nur mit dem literarischen Handwerkskoffer, mit viel Recherche-Neugier und noch mehr Phantasie. Aber warum? Weil ich mich sieben Jahre gesträubt hatte, diesen mythischen Ort zu betreten. Ja, der erste Grund für meinen Flug mit der „Landshut“ ist der, dass ich mich vorher lange dagegen gewehrt, dass ich genau das nicht gewollt und entschieden hatte: Nein, das machst du nicht!

Nach der Entführung und Ermordung Hanns-Martin Schleyers, der Entführung der „Landshut“ von Mallorca über Rom, Dubai, Aden und der Befreiung der Geiseln in Mogadischu, nach den Selbstmorden der RAF-Gefangenen herrschten im Herbst 1977 in der Bundesrepublik neben allen schreienden Schlagzeilen, Reportagen und Sondersendungen großes Aufatmen, aber auch seltsame Lähmung, ja Sprachlosigkeit. Wenn heute darauf zurückgeblickt wird, erscheint die Geschichte in sich rund und stimmig, als hätte sie sich zwangsläufig Schritt für Schritt so entwickelt. Zeitgenossen historischer Ereignisse aber sind viel mehr von ihren Gefühlsschüben geprägt als von den Fakten. Die Geschehnisse waren auf den ersten Blick sehr klar, trotzdem schwer zu fassen. So viel hausgemachten deutschen Mord hatte es seit 1945 nicht gegeben, ein SS-Mann war prominentestes Opfer, politisches Drama und menschliche Traumata verschmolzen. Vor allem: der alte, gegen ausgewählte Machthaber, Politiker, Juristen oder Wirtschaftsbosse gerichtete Terror hatte sich gekreuzt mit dem neuen, gegen eine zufällige Menge einfacher Bürger gerichteten Terror. Heute könnte man sagen: der Terror des 20. Jahrhunderts potenziert mit dem des 21. Jahrhunderts. Das war sehr viel auf einmal für die deutschen Seelen.

Die Tektonik der Gesellschaft hatte sich irgendwie verschoben, aber auf welche Art, verstand man noch nicht, ich jedenfalls nicht. Ich hatte nur so eine Ahnung, dass dies ein Wendepunkt für die deutsche Nachkriegsgeschichte war. Die RAF, die „das System“ sprengen wollte, hatte es stabilisiert. Diese Komik, die nicht zum Lachen war, musste erst einmal begriffen werden. Die RAF hatte „den Faschismus“ zerstören wollen und am Ende den liberalen Kern der Sozialdemokratie zerstört. Sie hatte die Linke mundtot gemacht und die „Bild“-Zeitung zum Leitmedium, zum Zentralorgan befördert. Einst losgezogen zur Befreiung der Unterdrückten, versuchte die zur Mörderbande mutierte Gruppe am Ende nur noch die eigene Gang zu befreien – ödes Schmierentheater mit hohem Thrill-Effekt. Ich hatte tausend Fragen an die pulsierende Geschichte – und hoffte ein Jahr nach dem Oktober 1977, mit der Arbeit an einem Roman herauszufinden, was sich in der Gesellschaft verändert hatte und weiter veränderte, atmosphärisch und strukturell. Die kühne Absicht: sich dem Wendepunkt oder Epochenbruch stellen, beobachtend, phantasierend, fragend, schreibend.

Zunächst waren die Gefühlswelten zu vermessen, nicht aus irgendeiner Art von persönlicher Betroffenheit heraus, sondern als Beobachter, Analytiker. Ich hatte zu allen die gleiche Distanz, zu den Tätern, zu den Opfern, den Politikern, dem Polizeiwesen. Das linke Milieu, aus dem ich kam und dem ich am nächsten stand, interessierte mich nicht, das war langweilig – mich interessierte das Schleyer-Milieu. Wie reagiert man in der emotionsfeindlichen Welt der Wirtschaft, der Manager, auf so etwas Ungeheuerliches und Hochemotionales wie eine Entführung und die Morde? Das war die produktive Frage. So entstand die Figur des „Chefdenkers“ in einem Wirtschaftsverband, dem der entführte Alfred Büttinger vorsteht, und wurde zum Helden der inneren Unsicherheit. Er bringt es auf den Punkt, wenn er in der mittleren Phase der Entführung von der Geisel Büttinger sagt: „Von seinen Feinden am Leben gehalten, von seinen Freunden zum Tode verurteilt.“ Klassisches Drama also, mit Herr-und-Knecht-Konflikt, so wurde der Roman „Ein Held der inneren Sicherheit“ (1981) glücklich beendet.

Einmal eingetaucht in diesen bis heute allzu gemütlich so genannten „deutschen Herbst“, war mir klar, dass da noch ein Roman zur „Landshut“-Geschichte und noch einer zur RAF-Szene fällig wäre. Aber als Anfänger beim Romaneschreiben mochte ich nicht so größenwahnsinnig sein, mir gleich eine Trilogie aufzuladen. In Wahrheit zögerte ich, weil mir beide Themenkomplexe zu schwer waren, zu schauderhaft, zu unerfreulich. Aber dieser Stoff, das fünftägige Martyrium von 91 Menschen auf engstem Raum, wollte etwas von mir. Es dauerte eine Weile, den Schlüssel zu finden, die radikale Subjektivierung: ein einzelnes Menschenwesen, eine Geisel, ein pauschal so genanntes Opfer des Terrors sollte in den Mittelpunkt rücken. Auch in den achtziger Jahren beschäftigte man sich, wenn es um die RAF und die Folgen ging, in den Medien ebenso wie an den Kneipentischen fast nur mit den Täterinnen und Tätern, selten mit den Opfern, und wenn, dann nur mit den prominenten. (Noch heute klagt der Schriftsteller Karl-Heinz Ott völlig zu Recht: „Lediglich die Täter scheinen es wert, dass man sie mit Biografien bedenkt, literarisch umkreist und künstlerisch umtanzt. Medial siegen so so gut wie immer die Mörder.“)

Doch was nützen all diese edlen Gründe und die Absicht Empathie, wenn man keine passende Form findet und nicht einfach das besser oder schlechter nachschreiben will, was die Reporter schon geschrieben haben? Nichts verlogener als ein „Tatsachenroman“ oder ein Roman „nach einer wahren Geschichte“ – eine Polemik in diese Richtung wäre ein Thema für sich, fürs Erste nur ein Zitat von Imre Kertész: „Im Roman sind nicht die Tatsachen das Entscheidende, sondern allein das, was man den Tatsachen hinzufügt.“

Erst nach einer anderen Entführung mit Geiselmorden, diesmal auf dem Kreuzfahrtschiff „Achile Lauro“, fiel der Groschen: die „Landshut“-Geschichte ist viel mehr als eine Teilgeschichte des „Deutschen Herbstes“. Für die Opfer, für die Entführten ist das eine existentielle Situation, ein überzeitliches, überregionales Drama um Tod und Leben. So banal sich das anhört: es geht um das nackte Leben, nicht um die politischen Verkleidungen und Verstrickungen. Das Flugzeug als Schauplatz einer allgemein menschlichen Tragödie. Wir sind im 20. Jahrhundert, und dies ist die modernste Form der Gefangenschaft, die jeden treffen kann, zu jeder Zeit an jedem Ort. Es gilt also, das Zeitlose in dieser Geschichte herauszuarbeiten. Mit diesem Widerspruch war der Weg klar.

Also weg von den Schlagzeilen, von den politischen Zusammenhängen, von den Sichtweisen des Krisenstabs, der Polizei, der Tower-Dialoge, der Journalisten, der Fernsehzuschauer, weg von aller Hollywood-Action, nicht einmal der Name „Landshut“ sollte fallen. Darum wollte ich selbst in die Maschine hineinkriechen, in einen einzelnen Passagier, in einen ganz auf sich selbst gestellten Menschen, kein Schlagzeilenheld, sondern ein schlotterndes Subjekt. Ich entschied mich für die Figur einer jungen Frau, einer Biologin, Beobachterin – aus dem schlichten und wissenschaftlich gesicherten Grund: Frauen sind in aller Regel genauer und geduldiger bei der Wahrnehmung, sie sehen mehr, sind aufmerksamer, hellhöriger, wittern besser als Männer, die in aller Regel früher in der Aufmerksamkeit nachlassen und schneller dazu neigen, sich dem Geschehen gegenüber zu positionieren und strategisch zu verhalten.

Bald war die Figur entworfen und die Form gefunden, die subjektive Erzählung mit dem ärgerlichen, amtlichen „Antrag auf Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für die Opfer von Gewalttaten (OEG)“ zu kontrastieren, den die Geiseln nach ihrer Befreiung hatten ausfüllen müssen. Nun erst begann ich richtig in das Material einzusteigen, die Reportagen, Interviews zur Entführung und Befreiung der „Landshut“, auch die ungedruckten Mitschriften des Filmers Ebbo Demant, gründlich zu studieren. Je mehr ich mich hineinwühlte, desto stärker der Unwille, dann der Entschluss: Nein, das geht nicht, es ist zu grausam, was die Menschen in diesen fünf Tagen und Nächten mitgemacht haben, das schaffst du nicht, das wird literarisch nie zu erfassen sein, was maßt du dir da an, du hast nicht einen Hauch davon selber erlebt, du kennst niemanden, der dabei war, und willst aus guten Gründen keine der ehemaligen Geiseln „nachbilden“, überforder dich nicht, gib das auf. Ich entschied, wie anfangs gesagt, diesen Roman nicht zu schreiben, nie und nimmer.

Doch am nächsten Morgen wusste ich: Genau deshalb musst du ihn schreiben! Genau deshalb, weil es unmöglich ist. Weil du scheitern kannst. Kunst, die das Risiko scheut, wird keine. „To find out what you cannot do, and than go and do it“, sagte schon John Donne. Nur wenn du das Risiko annimmst, hat es Sinn, sich überhaupt an den Schreibtisch zu setzen. Es half der Vorsatz, die ehemaligen Geiseln in Ruhe zu lassen und keine neuen Details aus ihnen herauszukitzeln, sondern auf dem reichlich vorhandenen Material die Phantasie sprießen zu lassen und strikt aus dem Kopf der erfundenen jungen Frau zu erzählen. Nichts auszulassen, auch nicht die Bereitschaft, sich zu unterwerfen und die peinlichsten Rituale mitzuspielen. So begab ich mich zwei Jahre lang jeden Tag für mindestens vier Stunden auf den engen Flugzeugsitz und ließ meine Geisel Andrea Boländer sich anschnallen und Sekunde für Sekunde die ganze Chronologie dieser Höllenfahrt durchleben, vom ersten Erschrecken über die vier bewaffneten Schreihälse in der Maschine über dem Mittelmeer bis zum letzten Erschrecken bei der Befreiung und zum Sprung in den Wüstensand.

Das Ergebnis „Mogadischu Fensterplatz“ liegt seit 1987 vor, und die schönste Belohnung kam von mehreren Leuten, die als Geiseln alle Torturen mitgemacht hatten und mir verblüfft schrieben oder sagten: „Ja, so war es. Aber woher wussten Sie, was ich alles gefühlt und gedacht habe, vieles davon hab ich doch niemandem erzählt?“ Solche Reaktionen können einen Autor nur verlegen machen, und ich murmele dann etwas wie: Das gehört zum Handwerk, Literatur muss genau das können, einfühlen und für das Ungesagte Sprache finden.

Zur Sprache finden, das wollte ich ja selbst, und da sind wir bei einem sehr subjektiven Motiv. Das erste Opfer der RAF waren Witz und Spott, habe ich nach den Erfahrungen im Wagenbach Verlag der frühen siebziger Jahre an anderer Stelle geschrieben. Der Terror zerstört nebenbei auch Humor und Sprache, und das ist für die Sprachsensiblen ein zusätzliches Handlungs-, Widerstands- und Schreibmotiv. Wo geschossen und gemordet wird, kann nicht mehr differenziert werden. Wo erpresst wird, stellt sich Lähmung ein. Wo das Freund-Feind-Denken, wo der Dualismus Gut-Böse herrscht, verschwindet das Argument. Wo Hass zum Alltag wird, erstirbt das Lachen, wird das Schöne vertrieben. Wo Ideologie barbarisch wird, ist für die Kunst kein Platz. So habe ich die Situation 1977 empfunden, doch diese Empfindungen noch kaum verstanden. Heute, seit dem 11. September 2001, sind das Gemeinplätze. Damals hat die stille Wut über die von den Terror-Idioten verursachte Sprachlosigkeit mich vorangetrieben zu dem Versuch, nach dem Medienspektakel wieder die Poesie der Subjektivität, die Sprache der Literatur zu finden. Aus dieser Wut heraus bin ich in die „Landshut“ gekrochen, musste ich drei Romane gegen die ideologischen Sprach- und Vorstellungsnormen der im Freund-Feind-Denken verhafteten Parteien setzen. Zugespitzt wird alles im dritten Teil, „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“, wo die Tragödie zur Groteske mutiert und der oberste Polizist über den obersten Terroristen den (verbürgten) Satz sagt „Ich habe ihn geliebt.“

„Was die Terroristen gewinnen, verlieren die Schriftsteller“, diese schnittige Formel fand Don DeLillo etliche Jahre später, 1991, in einem Dialog seines Romans „Mao II“. „Was sie an Einfluss auf das Bewusstsein der Massen hinzugewinnen, verlieren wir als Gestalter von Sensibilität und Gedanken. Die Gefahr, die sie darstellen, entspricht unserem Versagen, gefährlich zu sein (…) Und je deutlicher wir den Terror sehen, desto weniger Eindruck macht die Kunst auf uns.“ So war es 1977, so war es 1991 und 2001, so ist es heute, so wird es noch einige Zeit bleiben. Aber gerade aus der vermeintlichen Schwäche heraus ist immer geschrieben worden und wird geschrieben werden, egal welch niedrige Werte die Skala von Einfluss und Eindruck anzeigen mag.

Nun kommt sie „nach Hause“, die schrottreife „Landshut“, wird nach Friedrichshafen verfrachtet, dort aufpoliert, mit der alten Kennung und dem alten Namen ausgestellt und zur nationalen Ikone verklärt. Wenn es nach den eifrigsten Befürwortern des Projekts geht, soll die Maschine wieder einige Sitze erhalten, der Innenraum für eine Multimediashow über die Ereignisse von 1977 hergerichtet und die Erlebnisse der Geiseln über Lautsprecher eingespielt werden. So weit, so gut – falls Museumsfachleute dafür Sorge tragen, dass die Vorschläge zur Verkitschung mit GSG-9-Puppenmännern und übriggebliebenen Stofftieren ebenso abgeblockt werden wie die Tendenz, aus dem 18. Oktober eine bundesdeutsche Sedanfeier, aus den „Landshut“-Resten eine Trophäe, ein Niederwalddenkmal des besiegten Erzfeinds Terrorismus zu basteln. Das glückliche Ende des „Landshut“-Dramas dank der GSG 9 war eine Befreiung, aber, nicht nur Schleyers wegen, kein Sieg.

Sie haben mich gefragt, liebe Leserin, ob es sich lohnen werde, demnächst nach Friedrichshafen zu fahren und im Dornier-Luftfahrtmuseum die mythische „Landshut“ zu besichtigen. Ich rate nicht ab, erlaube mir aber den bescheidenen Hinweis, dass man einen stärkeren, anschaulicheren Eindruck durchaus viel günstiger haben kann, zum Beispiel für € 9,99. Nein, nicht mit dem „Mogadischu“-Film von 2008 – wenn der Zeitfaktor so entscheidend ist, sind im Film, in 110 Minuten, 107 Stunden nicht darstellbar. Schon eher mit dem Taschenbuch „Mogadischu Fensterplatz“. Denn die Literatur kann – nicht immer, aber meistens – mehr als die ausgestellte „Realität“, die Reportage und das Abfilmen. (Diese Wette gehe ich ein.) Der olympische Kampf um den künstlerischen Mehrwert, auch das war ein Grund, vor gut dreißig Jahren in die „Landshut“ gestiegen zu sein.

(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. August 2017)

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