Friedrich Christian Delius, FCD

Egon Schwarz

Egon Schwarz

Über den Humor bei Delius

“Humor” ist nicht die Kategorie, unter der die Werke des in allen möglichen Gattungen produktiven Schriftstellers F.C. Delius in den Bibliotheken geführt werden. Es hat zwar gelegentlich scharfsichtige Kritiker gegeben, die die unterschwellige humoristische Ader in seinen Büchern herausgespürt haben, aber der Mehrheit ist sie verborgen geblieben oder jedenfalls nicht erwähnenswert erschienen. Mit der Veröffentlichung seiner autobiographischen Erzählung, in deren Titel Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde (Rowohlt 1994) sich die humoristische Absicht bereits angekündigt, wird sich das vermutlich ändern, und es wird sich auch wieder einmal zeigen, wie nahe in der Gattung des “comique sérieux” Komik und Tragik nebeneinander stehen. Es kommt nur darauf an, ob man sich entschließt, über eine Kette von Ereignissen und Erlebnissen zu lachen oder zu weinen.

Die dem Titel beigefügte Bezeichnung “Erzählung” soll dem Leser wohl nicht nur nahe legen, daß allem Erinnerten trotz des besten Willens, sich an die strikte Wahrheit zu halten, etwas Fiktives anhaftet, sondern auch dem Umstand Rechnung tragen, daß nur ein einziger Tag aus dem Leben der offenbar mit dem Autor identischen Zentralgestalt erzählt wird, in dem dann aber langjährige Erfahrungen zusammengedrängt in Erscheinung treten. Dadurch soll man sich aber nicht abhalten lassen, in dem Geschilderten eine authentische Autobiographie zu erkennen, denn die Beschreibung der Lebensumstände des elfjährigen Knaben und der Ereignisse an diesem einzigen Sonntag, dem 4. Juli 1954, fügen sich eben zur Geschichte und zu den sich anbahnenden Umorientierungen einer ganzen Jugend zusammen. Hätte Delius sein Buch als “Novelle” ausgegeben, so hätte kein noch so genauer Literaturhistoriker Anstoß an dieser Bezeichnung nehmen können. Das Werk enthält sämtliche Merkmale der klassischen Novelle, einschließlich des obligaten Zentralsymbols, des Wendepunktes und des überraschenden Ereignisses, das in diesem Fall außerdem noch historisch ist.

Es handelt sich um die starre, repressive Ordnung in einem ganz den religiösen Vorschriften unterworfenen protestantischen Pfarrhaus, in dem der individuellen Entfaltung des sensitiven Knaben kaum Raum gewährt ist. Es sind noch andere Geschwister vorhanden, aber die Novellenform, die aus Gründen er Erzählökonomie mit wenigen Figuren auskommen muß, erlaubt kein Eingehen auf deren innere Probleme, keinen Vergleich mit dem unglücklich gespaltenen Helden. Er jedenfalls, ein weicher Träumer, leidet unter der Atmosphäre in seinem Elternhaus bis zur seelischen und sogar körperlichen Verunstaltung. Nicht nur ist der offenkundig Begabte ein schlechter Schüler, dem sich die Geheimnisse der lateinischen Sprache und der Mathematik nicht erschließen wollen, sondern er leidet auch an einer ihn selbst und wohl auch andere abstoßenden Schuppenflechte. Die Drohung, sie könnte von seinen Gelenken auf den ganzen Körper übergreifen, unter der er ständig lebt, ist zweifellos als Hinweis aufzufassen, daß nur ein Teil seines Wesens angekränkelt ist und daß sich die gesunden Teile noch zur Wehr setzen. Daß er außerdem kein Blut sehen kann und schon bei der bloßen Beschreibung von Blut und Wunden Ohnmachtsanfälle erleidet, stempelt ihn vollends zum Außenseiter. Auch das ist freilich ein symbolischer Zug und wird vom Erzähler geschickt mit den inneren religiösen Auseinandersetzungen des Knaben verflochten: “Ich konnte und wollte nicht einsehen”, sagt er sich einmal, “weshalb man sich an einem Sterbenden weidete, (…) warum man einen Toten anbeten mußte (46), warum man einen “blutenden Christus” anhimmelte (50). Seine schlimmste Heimsuchung ist aber sein Stottern, und keine Methode, weder als “herrisch” empfundenes Fragen (12) noch Zureden oder gutgemeinte Ratschläge, kann da Abhilfe schaffen. Denn dieses Stottern ist keine Äußerlichkeit, sondern eine Chiffre für Existentielles, die körperliche Entsprechung einer zur totalen Entfremdung gewordenen Kommunikationsstörung.

Was zu dieser Entfremdung geführt hat, wird in der Ich-Erzählung mit großer dichterischer Kunst vor dem Leser entfaltet, niemals in abstrakter Mitteilung (was F.C. Delius von Kritikern früherer Werke manchmal vorgeworfen wurde), sondern in teils komischen, teils bitteren Vignetten und in Szenen, die oft beides zugleich sind. Und die Konflikte zwischen den seelischen Bedürfnissen des Kindes und den Verweigerungen der Erwachsenen werden in der Form von erlebter Rede und innerem Monolog geschickt vermittelt. Um es kurz zu sagen: Was in dieser Welt fehlt, sind Spontaneität und, so sonderbar sich das auch in einem völlig vom Christentum beherrschten Milieu ausnehmen mag, Liebe. Gleich zu Anfang heißt es von der Mutter, sie wecke den Knaben morgens mit einer “auf Fröhlichkeit eingestellten Stimme” (11). Diese Formulierung allein zeigt schon, daß die Mutter ihr Verhalten der christlichen Pädagogik zuliebe forciert. Das ganze Christentum erweist sich als eine die Natur verleugnende und ihr dadurch schwere Schäden zufügende Macht und die Mutter als eine diesem Prinzip bedingungslos ergebene Gestalt. In diesem Haushalt tritt noch ein Großvater auf, aber auch er ist Vertreter des gleichen Systems, jemand, der niemals anderen als autoritären Mächten gedient hat, ein vom Kaisertum zum Christentum bekehrter Korvettenkapitän, von dem keine Hilfe zu erwarten ist. Die Hauptgestalt in diesem bedrohlichem Panoptikum ist freilich der Herr Pfarrer selbst, eine überragende, von der ganzen Gemeinde geachtete Figur, deren Ambivalenz vom Erzähler durch zahlreiche Anspielungen auf die Abraham-Isaak-Parabel begriffen wird: Möglicherweise liebt der Vater den leiblichen Sohn, er ist aber widerstandslos bereit, ihn den undurchschaubaren Anforderungen Gottvaters zu opfern. Der Vater im Hause und der Vater im Himmel zerrinnen dem Jungen in eins, so daß er weder den einen noch den andern ganz ohne Vorbehalt lieben kann. Die Tragödie dieser Jugend liegt vielleicht darin, daß nur wenige Schritte die Haustür von der Kirchentür trennen (42), die Unterjochung des Heims durch eine Weltanschauung. Zudem kultiviert der Pfarrer dieses Ineinander der Sphären ganz bewußt. Im Empfinden des Kindes spiegelt sich das Schwanken zwischen Identität und Nicht-Identiät folgendermaßen:

“Ich (…) wußte, damit war der Vater im Himmel gemeint und nicht der Vater neben mir, aber doch wieder der Vater neben mir, der mit seiner Arbeit die Liebe des Vaters im Himmel verkündete, ihn vertrat und damit das Geld verdiente, mit dem die Spiesen im Edeka-Laden gekauft wurden” (67).

Dieses Nebeneinander von Himmlischem und Irdisch-Banalem erinnert an Heines Harzreise, wo auch Oben und Unten, Göttingens Sternwarte und Entbindungsanstalt, Universität und Würste in einem Atemzug genannt werden und die Keimzelle der Ironie bilden.

Dieser Vater ist keineswegs ein wutschäumender Tyrann, sondern nur ein unerbittlicher Verwalter eines jede freie Lebensäußerung mißtrauisch beargwöhnenden und erstickenden Systems, dem alle Familienmitglieder unterworfen sind. Nicht durch äußere Brutalität, sondern durch die subtile Erzeugung von Schuld werden sie im Zaum gehalten. Stille Drohungen, Regeln, Gebote und Gebete sind die psychologischen Mittel, den auf Ausschaltung der Individualität beruhenden Gehorsam zu erzwingen. Vielleicht würde es robusteren Naturen gelingen, ihre Eigenständigkeit auch unter diesen ungünstigen Bedingungen durchzusetzen; zu diesen gehört aber der Held der Erzählung nicht. Er ist ein empfindsamer, kränkelnder Knabe, der unter den Repressionen der alles durchdringenden Ideologie des Elternhauses leidet, und besonders darunter, daß die Liebe, unter der er gedeihen würde, von der Religion gepachtet ist. Neben diesem eifersüchtig gehüteten Besitzmonopol bleibt für den einzelnen, selbst ein Kind der Familie, nichts mehr übrig.

In der Zeit, von der hier erzählt wird, ist der kleine Held keineswegs ein fertiger Rebell. Dann hätte er ja die ihm fehlende Festigkeit, den archimedischen Punkt, von dem aus er diese Welt aus den Angeln heben könnte. Solche Ressourcen fehlen ihm aber, und was die Spannung erzeugt, ist gerade seine Gespaltenheit, auf der einen Seite der Wunsch, brav und fromm zu sein, gläubig und geborgen, und auf der anderen seine Zweifel, die frühen Anzeichen seines keimenden Dichtertums, die Fähigkeit der scharfen Beobachtung, das Aufdecken kleiner Widersprüche und anrüchiger Beweggründe, kurz die schon erwähnte Verquickung von Materiellem und Geistigem, wobei das Materielle wie in jeder komischen Situation das Deftigere ist und das Geistige stets den kürzeren zieht und daher dem Spott verfällt. Dies drückt sich in winzigen Ironien aus, aus denen das Netz gesponnen ist, dem aber auch die Elemente tragischer Verstrickung nicht entwischen dürfen. Beispiele sind über die ganze Erzählung verstreut, etwa in den köstlichen Beschreibungen der im Pfarrhaus freudlos eingenommenen Mahlzeiten: “Jedes Tischgebet”, heißt es einmal, “beschwor die Einheit zwischen Brot und Jesus und Gott und jenem magischen Geist, einer der drei oder alle zusammen schenkten das Essen, und daran sollte gedacht werden beim Anblick des Weizens auf dem Feld (…). Auf der Kabapackung aber blühten die Palmen, leuchtete gelb die Wüste, ich fand es erleichternd, daß der Kakao zu Jesuszeiten unbekannt war und ich in keinem Gebet genannt wurde, also ohne verdrückte Andacht getrunken werden konnte” (21/22). Dies ist charakteristisch. Nur auf einen Augenblick befreit sich die Phantasie in eine wertvolle Exotik, der Körper bleibt in der Zwangsjacke der Dogmen gefesselt. Die Novelle richtet ihr Scheinwerferlicht auf den Heranwachsenden in jenem Augenblick, da Glauben und Unglauben sich in seinem Leben gerade noch die Waagschale halten.

Wenn es bei solchen kleinen Vorbehalten, solchen winzigen Triumphen der Rebellion sein Bewenden gehabt hätte, dann wäre die Geschichte nicht erzählenswert gewesen. Es gibt aber in dieser (schein)heiligen und (schein)heilen Welt eine gewaltige säkuläre Macht, die dem kleinen F.C. beisteht und schließlich zu seiner Befreiung führt: Fußball. Die Hinweise auf das Fußballspiel sind an vielen Stellen der Erzählung angebracht und in kunstvoller Vorbereitung auf den Höhepunkt der Erzählung in den Text verwoben. Zusammen mit den Wanderungen durch die heimatliche Landschaft gehört das Fußballspielen zu den wenigen Freuden des Protagonisten, die sich den religiösen und moralischen Gängelungen seines Vaterhauses entziehen. Es spielt eine Rolle in seinen Träumen und Phantasien, er nimmt teil an den Wettkämpfen der Dorfjugend, verfolgt die Geschicke der lokalen Mannschaft und weiß offenkundig Bescheid über den Stand der internationalen Meisterschaften. Am Nachmittag dieses Sonntags soll aber das Zentralereignis der Novelle stattfinden: das Finale der Fußballweltmeisterschaft zwischen Deutschland und Ungarn. So sonderbar dies in den Ohren eines Nicht-Deutschen oder gar eines am Fußballsport nicht interessierten Menschen klingen mag, dieses Match spielt auch eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Geschichte Deutschlands. Die durch die Niederlage im Zweiten Weltkrieg, die Zerstörung ihrer Städte und die Enthüllungen der entsetzlichen von den Nazis verübten Verbrechen gedemütigten Deutschen erlebten in dem Sieg über Ungarn eine Art Katharsis, er bedeutete eine symbolische Wende im Selbstbewußtsein der Nation. Kein Wunder, daß dieses Spiel auch in andere künstlerische Gestaltungen aufgenommen wurde, zu Beispiel in Fassbinders Film Die Ehe der Maria Braun von 1979, wo acht Minuten lang die Übertragung dieses historischen Fußballtreffens in die Ohren der Zuschauer klingt, ehe der Film in der Apokalypse, der Explosion des Hauses der Heldin zerbirst.

In dem hauptsächlich der “Politics & Culture of Soccer”, der Politik und Kultur des europäischen Fußballspiels gewidmeten Heft der amerikanischen Zeitschrift The New Republic vom 4. Juli 1994 drückt F.C. Delius den historischen Sinn dieses Spiels so aus:

“On July 4 ‘1954’ many West Germans sat in front of a television for the fist time; people gathered in taverns before tiny screens. Millions more heard the play-by-play on the radio. The citizens of East Germany, than called the Soviet Zone, listened with open or concealed sympathy for West Germany. The game’s ninety minutes, culminating with the astonishing West German victory, served as the initiation ritual for the fledgling Federal Republic. In the rain of Bern, in a mud fight that must have reminded all the former soldiers of the trenches, eleven men in soiled, wet tricots fought for a happy 3-2 decision – and more. They transformed the West German self-image: the time of defeat was past; from now on victory was the aim.” (S.20)

Ich zitiere diese Stelle im Original, weil dieses die Atmosphäre der in den USA abgehaltenen Fußball-Weltmeisterschaft, die der skeptischen Leserschaft nähergebracht werden sollte, am getreuesten wiedergibt.*)

Und in einer Anspielung, die nur Leser der Novelle Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde voll auskosten können, schreibt Delius in dem gleichen Artikel:

“As an 11-year old, a pastor’s son (…), I experienced the football triumph through the radio. I still feel a personal, speechless feeling of victory, and I am not alone. This was more than the fandom of childhood and adolescence. For us children, innocent of the war but reared in a culture of suppression and sternness, the victory was a liberation, perhaps because our fathers, who had survived the war, finally could permit themselves to appear more relaxed and happy.” (22) **)

Dies könnte als interpretatorische Synopsis auch von dem autobiographischen Werk gesagt werden, mit dem wir uns beschäftigen, aber in der Erzählung geht es komplexer zu. Wie die wachsende Ungeduld auf die Radioübertragung gestaltet wird, wie der Elfjährige vor dem Apparat kauert und mit allen Fasern seines Seins an der Stimme des Sportansagers hängt, wie Delius die Emotionen des Jungen aufwallen, sie je nach dem Verlauf des Spiels sich steigern und abflauen läßt, wie er bei den Toren der Ungarn in Verzweiflung, bei denen der Deutschen in Paroxysmen der Begeisterung ausbricht und seine ganze Psyche nach dem nicht erwarteten und trotzdem heiß erhofften Sieg sich in einem Rausch der Seligkeit entlädt, das ist schlechterdings meisterlich gestaltet, ein Kabinettstück der feinsten Erzählkunst. Es ist ein Prozeß, ähnlich dem im Grimmschen Froschkönig-Märchen dargestellten, wo dem treuen Heinrich die eisernen Bänder, die ihm um das Herz gewachsen sind und es zusammenpressen, eines nach dem anderen bersten und ihn freisetzen. Das Äquivalent eines solchen Ringes ist die Überwindung seines lebenabwürgenden Stammelns: “Ich hatte plötzlich ‘zwei zu zwei’ gesagt”, erinnert sich der Erzähler, “hatte die schwierigsten Wörter über die Zunge gebracht ohne zu stottern” (103). Es ist ein explosiver, ein grandioser Befreiungsvorgang, den der Leser miterlebt, und genauso erlebt ihn auch der auf allen Seiten eingeengte junge Mensch, von dem berichtet wird; er spricht von diesem Sieg als einem “paradiesischen Zustand”, er hat die Gewissheit, “dem Vaterkäfig, den unsichtbaren Gottesfallen” entronnen zu sein, wenn auch nur für zwei Stunden (115). Der Leser weiß es besser, es ist eine Befreiung fürs Leben, sonst könnte es ja auch kaum heißen: “In diesen Minuten rückte ich ab von der dreieinigen Besatzungsmacht Gott, Jesus und Heiliger Geist und begann an einen (…) Außenseitergott zu glauben (95/96). Die religiösen Ausdrücke, die hier aufgeboten werden, sind nicht übertrieben. Denn was dem Knaben ermöglicht, den Übergang von der kirchlich verhängten Gefangenschaft seines Daheims in die große säkulare Welt der Nation in so kurzer Frist zu vollziehen, ist ja die Tatsache, daß ihm das Geschehen auf dem fernen Fußballfeld in der Schweiz ausgerechnet in der theologischen Sprache dargeboten wird, an die er von Kind auf gewöhnt ist. Der ahnungslose Sportkommentator, der ja nicht weiß, welches Menschenschicksal da in dem hessischen Dorf vor einem Radioapparat ausgetragen wird, bedient sich genau der richtigen Ausdrucksweise. Er spricht von einem “Wunder”, er schickt einer abgewehrten Gefahr sein “Gott sei Dank” nach, er schreibt eine glimpflich an der deutschen Mannschaft vorbeigegangenen Bedrohung einem “Schutzengel” zu, er apostrophiert einen Spieler als “Teufelskerl”, ja gar als “Fußballgott”! Nicht ohne Grund also erlebt der zuhörende Junge (oder zumindest der erwachsende Erzähler, der einmal dieser Junge war) solche Reden als “neue Form der Anbetung”, als einen “lästerlichen, unerhörten Gottesdienst, eine heidnische Messe” (93). Noch vierzig Jahre später, in der für die amerikanische Zeitschrift verfaßten Darstellung, klingt diese Erkenntnis nach:

“Even the language of the radio announcer (…) was mixed with religious vocabulary. “Toni, you are a football god!,” he exclaimed after the goalkeeper, Toni Turek, made a dazzling save against the Hungarians. The victory was celebrated as a “wonder”, a heavenly gift. (…) The very fact that a football game could be understood as a ‘wonder’ demonstrates the psycho-social needs of the Germans just after the war. They longed for redemption and a future, for freedom from guilt and the past”(20). ***)

Mutatis mutandis gelten diese Urteile auch für die Hauptgestalt der Novelle, selbst wenn es bei ihr um eine andere Befreiung geht. Die Vermutung liegt nahe, daß Delius sich nicht allein auf sein Gedächtnis verlassen hat, sondern die Reportage dieses Fußballtreffens wörtlich zitiert.

Eine ebenso humoristische wie hintergründige Ironie, mit der dieser Erlösungsakt erzählt wird, liegt darin, daß der jugendliche Held, der sich schon früh zum Dichter bestimmt fühlt, das Alter Ego des zukünftigen Sprachkünstlers F.C. Delius, seine Befreiung gerade durch die sensationsbeladene, hyperbolische und mehr als saloppe Sprache des Fußballreporters erfährt. Doch ist die ganze Erzählung durchsetzt mit Humor, einem Humor der Einzelheiten voll ironischer Spitzen gegen die Übermacht des Heiligen, Verbotenen und Reglementierten im Alltag des Pfarrhauses, er gleicht einer Verteidigung, einem Luftschöpfen, als tauche ein Säugetier aus der luftlosen Meerestiefe auf, um Atem zu holen, etwa wie die köstliche Disquisition über das Brot:

“Das Brot war heilig, auf jedem Laib, obwohl im Dorfbackhaus gebacken, lag der Segen des Heilands, auf jeder Scheibe, als sei sie nicht durch die Brotmaschine gekurbelt, sondern von Jesus persönlich gebrochen worden, der Widerschein eines Wunders. Das tägliche Brot, um das wir täglich beteten, es kam tatsächlich auf den Tisch. Die Speisung der Fünftausend und das Abendmahlsbrot waren so gegenwärtig, daß selbst ein trockener Kanten ein entferntes Abbild eines zweitausend Jahre alten Brots aus der Bibel war, Manna, das himmlische Brot beim Zug durch die Wüste. Besonders vorsichtig wurde es angefasst, als könne eine grobe Bewegung oder zuviel Druck das Brot zerquetschen, vernichten, als verschwinde es bei geringster Gewalt und strafe den, der es achtlos, undankbar zu drücken oder mit ihm zu spielen wagte, mit der Verdammung zu ewigem Hunger. Indem wir es kauten, kauten wir die Ehrfurcht vor dem Brot mit, und obwohl noch nicht reif für das Abendmahl, waren die Belehrungen schon so weit fortgeschritten, so tief ins Bewußtsein gestempelt, daß ich beim ruhigen Sonntagsfrühstück schon den Anflug des Heiligen Geistes spürte.” (20/21)

Aber die Hauptquelle des Humors fließt natürlich aus dem Abstand der Jahre, aus der Erzählsituation, in der der reife, reüssierte Mensch sich der tödlichen Umklammerung erinnert, die den jungen Kerl, der er einmal war, beinahe erstickt hätte. Es ist ein Humor der Nachsicht, ausgestattet mit der warmen Sympathie für überstandene, aber vielleicht nicht ganz überwundene Leiden. Es ist auch ein Humor der Lebensweisheit, der weiß, wie leicht Komisches in Tragisches umschlagen kann und wohl umgeschlagen wäre, wenn auch nur ein winziges Körnchen im Heiltrank gefehlt hätte. Es ist diese von Tragik umwitterte Fallhöhe, die den köstlichsten Humor hervortreibt.

Um es zu wiederholen: Man hat ein kleines Meisterwerk vor sich, eine zeitgemäße Kindheit, Verwandlung einer Jugend im Gewand einer noch lebendigen Historie, komprimiert in die Erlebnisse eines einzigen denkwürdigen Tages. Zu hoffen bleibt, daß F.C. Delius nun bald auch die Geschichte seiner zweiten Befreiung vorlegt. Er hat erzählt, wie er der lebensgefährlichen Umklammerung einer Religion mit Hilfe einer anderen, einer Ersatzreligion entronnen ist. Die Mischung von Fußball und Deutschnationalismus ist, wie man weiß, auch nicht ohne ihre Tücken, und manche seiner Leser wüßten sicherlich gern, wie er den schädlichen Wirkungen dieser nicht minder giftigen Droge entkommen ist.

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*) Ich entschuldige mich bei denen, die Englisch verstehen, daß ich die Passage nun auch in deutscher Übersetzung vortrage:
“Am 4. Juli ‘1954’ saßen viele Deutsche zum ersten Mal vor einem Fernseher. Menschen versammelten sich in Wirtshäusern vor winzigen Fernsehschirmen, weitere Millionen hörten die Rundfunkübertragung. Die Bewohner Ostdeutschlands, damals Ostzone genannt, lauschten mit offener oder versteckter Sympathie für den Westen. Die neunzig Spielminuten, die mit dem erstaunlichen westdeutschen Sieg endeten, dienten als Einweihungsritus für die erst kürzlich flügge gewordene Bundesrepublik. Im Berner Regen, in einer Schlammschlacht, die alle ehemaligen Frontsoldaten an die Schützengräben erinnern mußte, kämpften elf Mann in beschmutzten, nassen Trikots um die glückhafte 3-2-Entscheidung – ja um mehr. Sie verwandelten das westdeutsche Selbstverständnis: Die Zeiten der Niederlage waren vorbei. Von nun an ging es um Sieg.”

**) “Als elfjähriger Sohn eines Pastors erlebte ich den Fußballtriumph am Radio. Noch empfinde ich das persönliche, sprachlose Siegesgefühl, und ich bin nicht allein. Dies war mehr als jugendliche Sportbegeisterung. Für uns Kinder, die den Krieg nicht verschuldet hatten, doch in einer repressiven und überstrengen Kultur aufwuchsen, war der Sieg eine Befreiung, vielleicht deswegen, weil unsere Väter, die den Krieg überlebt hatten, sich endlich gelassener und glücklicher geben durften”.

***) “Sogar die Sprache des Radiokommentators war mit religiösem Vokabular untermischt. “Toni, du bist ein Fußballgott”, rief er aus, nachdem er Torwart Toni Turek einen Ball der Ungarn blendend gehalten hatte. Der Sieg wurde als ‘Wunder’, als göttliches Geschenk gefeiert. Die bloße Tatsache, daß ein Fußballspiel als ‘Wunder’ aufgefaßt werden konnte, beweist das sozialpsychologische Bedürfnis der Deutschen nach dem Krieg. Sie sehnten sich nach Erlösung und nach einer von Schuld und Vergangenheit freien Zukunft.”

(Aus: Literatur für Leser. Themenheft F.C. Delius. Peter Lang Verlag, Frankfurt 1995)

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