Friedrich Christian Delius, FCD

Gunnar Schmidt_Rede

Gunnar Schmidt

Rede zum 70. Geburtstag von Friedrich Christian Delius, Literarisches Colloquium Berlin, 13. Februar 2013

Meine Damen und Herren,

seit fast fünf Jahrzehnten gilt er als herausragender Chronist seiner Zeit, hat in dieser Spanne mehr als dreißig Bücher veröffentlicht, die sich zu einem Werk gefügt haben – einem Werk von großer Beständigkeit, von großer Klarheit und Kraft. Zugleich besticht er – Erzähler, Spieler, Poet – durch Vielseitigkeit und die Musikalität seiner Prosa. Heute, an diesem Tag, wird Friedrich Christian Delius, man glaubt es kaum, siebzig Jahre alt.

Seine Romane und Erzählungen, übersetzt in achtzehn Sprachen, spiegeln deutsche Geschichte und Mentalitätsgeschichte, lassen die wichtigen Zäsuren nach dem Zweiten Weltkrieg lebendig werden: “Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde” etwa ist an das Schlüsseljahr 1954 geknüpft, an das “Wunder von Bern”, “Amerikahaus und der Tanz um die Frauen” an die Aufbruchsstimmung, die zu spüren war, bevor es zu den ideologischen Verhärtungen von ’68 kam, “Ein Held der inneren Sicherheit”, “Mogadischu Fensterplatz” und “Himmelfahrt eines Staatsfeindes” an den Terror der RAF und den Deutschen Herbst, “Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus” an die Erfahrung der deutschen Teilung, “Die Birnen von Ribbeck” schließlich an die deutsche Wiedervereinigung.

Dabei hat sich Delius nie wie ein Historiker bewußt einem Stoff zugewandt, nein, sein Schreiben geht ganz auf seine Zeitgenossenschaft zurück, auf die Fragen, die er an die unmittelbare Gegenwart hat, auf den Versuch, sie zu verstehen. Es fällt auf, mit welch großem Gespür Delius Neues erahnt, Umbrüche erfaßt, wie schnell er Themen aufgreift. Schon kurz nach der Schleyer-Entführung und den Ereignissen von 1977 hat er die Arbeit an seinem Roman “Ein Held der inneren Sicherheit” begonnen, nur wenige Monate nach dem Mauerfall “Die Birnen von Ribbeck”. Er hat die Bücher als Zeitgenosse geschrieben, als wacher Beobachter, aus dem Fluß der Dinge heraus, nicht nachträglich aus der sicheren Distanz. “Deswegen schreibe ich ja Romane”, sagte er einmal, “weil ich die Welt nicht auf eine einzige Formel bringen kann.” Da ist jemand am Puls der Zeit, dicht an der Gegenwart, dicht am Leben.

Auch die autobiographisch gefärbten Werke sind entstanden, als für ihn die Fragen an die eigene Lebensgeschichte drängend wurden. Lange ist Delius mit Selbstauskünften recht zurückhaltend gewesen, heute jedoch gehören diese autobiographischen Erzählungen mit zu seiner stärksten Prosa. Im „Bildnis der Mutter als junge Frau“ spaziert eine hochschwangere junge Deutsche im Kriegsjahr 1943 in Rom vom Diakonissenheim bis zur lutherischen Kirche, und Delius schafft es, aus dem Gespräch einer Mutter mit ihrem ungeborenen Kind wie nebenbei das Gespräch eines Sohnes mit seiner verstorbenen Mutter werden zu lassen – zumindest im Kopf des Lesers. Ein Meisterstück.

In “Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde” hat Delius geschildert, unter welchen Mühen er als Junge zur Sprache, zu einer eigenen Welt gefunden hat. Wie auch in dem kurzen “Selbstporträt mit Schimpansen”, dessen erste Sätze einen ganzen Kosmos aufreißen: “Wenige Tage nach dem Ende der Schlacht von Stalingrad nicht weit vom Vatikan in das warme Frühlingslicht von Rom geboren, die Mutter eine milde Mecklenburgerin, der Vater ein westfälischer Pfarrer, zwischen hessischen Wäldern und Fachwerkhäusern, Bücherregalen und Fußballplatz Lesen und Schreiben gelernt und zugleich stotternd und stumm geworden – wo fängt es an, das Ich, das mit gelähmter Zunge zur Sprache drängt und im Alter von zehn Jahren mit der Schreibmaschine des gefürchteten Vaters sich einen ‘Weltplan’ tippt? Und als ‘Beruf’ angibt: Dichter.”

Sicher, es ist eine Flucht in eine eigene Gedankenwelt – Delius hat die Nöte des Heranwachsenden eindrucksvoll beschrieben –, der Versuch, Zuflucht bei den Wörtern zu finden, eine Gegenwelt zur Allmacht des Vaters, der Gottes Wort predigte, zu entwerfen – die Geburt der Literatur aus dem Geist, nein, richtiger hier: aus dem Widerstand gegen den Geist des deutschen Pfarrhauses. Andererseits ist, bei aller Ohnmacht und Unsicherheit des Jungen, früh der starke Wille zur Selbstbehauptung zu spüren, ja ein Selbstvertrauen, von dem er ein Leben lang zehren wird. Wie sonst könnte ein Zehnjähriger einen “Weltplan” tippen und den Beruf “Dichter” wählen?

Und er ging dann auch unbeirrt seinen Weg in die Welt: Delius ist achtzehn, als er seine ersten Gedichte veröffentlicht, in der Schülerzeitung, einundzwanzig, als er, ein Jahr nach seinem Abitur, auf der Tagung der Gruppe 47 im schwedischen Sigtuna liest, und zweiundzwanzig, als sein erstes Buch, der Gedichtband “Kerbholz”, im Wagenbach Verlag erscheint. Neunundzwanzig schließlich, als Siemens gegen seine Dokumentarsatire “Unsere Siemens-Welt” einen Prozeß anstrengt, und er, David gegen Goliath, dem Weltkonzern Paroli bietet.

Auf die Frage, warum er sich mit “Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde” erst so spät dem Autobiographischen geöffnet habe, antwortete Delius: “Ich war früher einfach nicht reif genug für ein solches Buch, von meinem Bewußtsein her und von der Sprache her – und das ist ja nichts Besonderes, Wolfgang Koeppen schrieb ‘Jugend’ mit siebzig. Bei aller Not, die da beschrieben ist, ist das Buch ja auch eines der Versöhnung mit den Eltern – dazu braucht man ein paar Jahre, ein gewisses Alter.” Delius hat dem Band übrigens einen Satz aus Koeppens “Jugend” vorangestellt: “Zum Hafen führt es abwärts, ich hoffe, ich fürchte, es geht in die Welt.” Bei Koeppen wiederum findet sich als Motto ein Goethe-Satz, der sich auch wunderbar auf das Werk von Delius münzen ließe: “Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene.”

Überhaupt Koeppen. Auch er ein Seismograph individueller und gesellschaftlicher Erschütterungen, ein feinnerviger Porträtist seiner Zeit, der lyrische Elemente mit dokumentarischen verwebt, auch er ein Autor, der sich hochsensibel in seine Figuren einfühlt und zugleich souverän das Leben aufschlüsselt, in das sie hineingestellt sind, der, allergisch gegen alles Ideologische, das Abstrakte nicht liebt, auch er ein Autor mit Neugier auf die Welt, mit Phantasie, Intuition und Menschenkenntnis.

Wird Delius nach Altvordern gefragt, die ihn beeinflußt haben, von denen er gelernt hat, so nennt er vor allem ihn. Bei Koeppen bebe jeder Satz. Die rhythmischen Assoziationsgefüge im “Bildnis der Mutter als junge Frau” etwa lassen an ihn denken, eine dichte, suggestive Prosa von großer Musikalität. Doch auch jenseits alles Handwerklichen gibt es Berührungspunkte zwischen Delius und Koeppen: Beide Stadtschreiber von Bergen-Enkheim, beide Büchner-Preisträger, beide am Schreibtisch beredt, sonst aber eher schweigsam. Und schließlich noch eine verblüffende Parallele zu dem Zehnjährigen, der als Berufswunsch “Dichter” auf der Schreibmaschine tippt. Als Wolfgang Koeppen einmal gefragt wurde, ob es von Kind auf sein Wunsch gewesen sei, Schriftsteller zu werden, sagte er: “Ja, als kleiner Junge habe ich ein Schild an meine Tür gehängt. Darauf stand: Herr Tod, Literat.”

Vielleicht hängt es auch mit der frühen Selbstbehauptung zusammen, mit der Notwendigkeit, einen eigenen Weg zu finden, daß Christian Delius so wohltuend immun gegen alle Moden ist, oder, um im Bild seiner Dissertation “Der Held und sein Wetter” zu bleiben, so wetterfest, selbst in stürmischen Zeiten. Ende der sechziger Jahre etwa zeigte er sich doppelt imprägniert gegen die Rede vom Tod der Literatur. Seine Ruhe und Unaufgeregtheit in künstlerisch-ästhetischen Fragen, die ihm übrigens auch in anderen Lebensdingen eigen ist, sind seine große Stärke. Seine Unbeirrbarkeit erinnert an Döblin, der Tommaso Marinetti nach der Veröffentlichung des “Futuristischen Manifests” schrieb: “Pflegen Sie Ihren Futurismus. Ich pflege meinen Döblinismus.” Ein Satz, der von Delius stammen könnte, als Kommentar zu allem modischen Hin und Her. Delius ging es nie darum, irgendetwas zu zertrümmern oder revolutionär umzugestalten, radikal zu sein um der Radikalität willen; er will erzählen, mitunter einfach eine gute Geschichte. Als Erzähler ist er sich immer treu geblieben.

Dieses In-sich-Ruhen als Erzähler wirkt wie ein Kontrapunkt zur Wandelbarkeit des F.C. Delius, steht aber keineswegs im Widerspruch dazu. Er spielt gern mit Form, Stil und Genre, ist Lyriker, Satiriker, Dramatiker, Hörspielautor, Dokumentarschriftsteller, Essayist. Wenige Autoren bewegen sich so frei im Spektrum der literarischen Gattungen, und er hat dieses sogar erweitert (z.B. um die Dokumentarpolemik – “Wir Unternehmer”, “Unsere Siemens-Welt”). Er überrascht immer wieder aufs Neue. Seit “Der Held und sein Wetter” auch Wetterexperte, antwortete Delius einmal auf die Frage, bei welchem Wetter er sich am wohlsten fühle, verschmitzt und nicht ohne Hintersinn: “Vielleicht im Halbschatten eines Sonnentages unter einem Baum in freier Landschaft. Vor allem liebe ich die Abwechslung, den Wechsel der Jahreszeiten. Ich verstehe nicht, warum die Karibik so ein Sehnsuchtsort ist. Drei Wochen eitel Sonnenschein, gut. Aber das ganze Jahr? Für mich wäre das ein Albtraum … Das Gute am Wetter ist doch, es ist nicht berechenbar.” – Wie Delius.

Mir ist aufgefallen, daß er, wenn er über Literatur und Kunst spricht, die er stets gegen die Politik verteidigt, immer wieder auf zwei Begriffe kommt: Zweifel und Widerspruch. Sie sind konstitutiv für sein Schreiben und Denken. Er betont, wie wichtig es sei, Brüche und Widersprüche nicht zu leugnen, sie nicht glattzubügeln, die produktive Kraft des Zweifels zu erkennen, und schon deshalb entzieht er sich allem Ideologischen. Friedrich Schlegels Maxime zitiert er nicht ohne Grund, sie hat Gültigkeit für sein eigenes Schaffen: “Jeder Satz, jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht, ist unvollständig.” Und auch außerhalb des Ästhetischen hegt er eine tiefe Abneigung gegen jede doktrinäre Zuspitzung.

Deshalb ist es kein Zufall, sondern unvermeidlich, daß es Delius nur im Plural gibt. Da ist der Lektor, zuerst im Wagenbach Verlag, wo er Wolf Biermann, Yaak Karsunke oder Hartmut Lange betreute, aber auch die Zerrissenheit der Linken angesichts des beginnenden RAF-Terrors erlebte, dann im Rotbuch Verlag, wo er wesentlich zur Entdeckung von Heiner Müller beitrug, mit dem er an der Werkausgabe arbeitete, und von Thomas Brasch, der mit “Vor den Vätern sterben die Söhne” 1977 sein Prosadebüt gab. Er betreute Dario Fo und Peter Schneider, dessen Erzählung “Lenz” zum Kultbuch wurde. Eine fruchtbare, ertragreiche Zeit, die Jahre 1970 bis 1978. Delius’ Credo als Lektor: Es gibt nur ein einziges Kriterium für Literatur: gut gebaute Sätze. Die Sprache muß überzeugen, das ist die oberste Regel.

Da ist der Mittler zwischen Ost und West, der wie nur wenige andere Schriftsteller geholfen hat, Autoren aus der DDR im Westen bekanntzumachen. In den sechziger Jahren hat Christian Delius fleißig über die Grenze geschmuggelt, “aber immer nur wenige Seiten”, erinnert er sich, “einiges von Biermann, Gedichte von Kunert, Berger, Mickel, Bartsch bis hin zu ein paar Sachen von Brasch und Heiner Müller, zum Beispiel die ‘Hamletmaschine’, die ja so dünn ist, daß sie unauffällig unter das Unterhemd paßte, im Gürtel eingeklemmt. Wenn man sich gerade hält, ist das kein Problem.” Er lernte Volker Braun, Sarah Kirsch und Stefan Schütz kennen. Der Titel des Biermann-Buches “Mit Marx- und Engelszungen” stammt von ihm. Risikofreudig zeigte er sich auch, als er in den frühen Siebzigern für Günter Kunert, der einen Renault 16 fuhr, neue Autoreifen über die Grenze schmuggelte. Die Stasi beschlagnahmte später die Reifen, untersuchte sie eingehend und fand nichts außer: Luft. Wie Delius in seinen Stasi-Akten sehen konnte, ist er während seiner Aufenthalte im Osten anderthalb Jahre beschattet worden. Also nicht nur poetische Mauerunterwanderungen zwischen Ost und West. Aber noch mehr gelangte über die Grenze. Delius: “Es muß eine Postkarte von Kunert an Johnson geben, Nordhäuser Doppelkorn betreffend, den Johnson so liebte. Die Karte, erzählte mir mal jemand, war bei einer Johnson-Ausstellung in Frankfurt zu sehen, ungefähr mit dem Text: schicke Delius in der bekannten Nordhäuser Angelegenheit. Demnach hab ich nicht nur Manuskripte von Ost nach West, sondern auch Schnaps gebracht, jedenfalls für Johnson.”

Da ist der Fußballer, der von 1968 bis Mitte der siebziger Jahre Verteidiger der “Rixdorfer Balltreter” war. Seine Mitspieler unter anderen: Wolfgang Neuss, Otto Schily, Nicolas Born, Hans Christoph Buch und Rudi Dutschke. Delius’ nach eigener Auskunft größte sportliche Leistung: der Steilpaß auf Wolfgang Neuss im Sommer 1969 in Berlin-Schlachtensee.

Und da ist schließlich, durchaus eine eigene Kategorie – wer Delius kennt, weiß das –, der Schweiger. Delius über eine Begegnung mit Johnson in den Sechzigern in Berlin: “Ich erinnere mich an ein Fest, wo getanzt wurde, da stand ich mit Johnson zusammen, vielleicht war es sogar in der ‘Vollen Pulle’, eine Bar am Steinplatz, wir redeten irgendwas – wenig, weil er nicht viel redete und ich noch weniger.” In seiner Dankesrede zum Büchner-Preis heißt es: “Alleinsein, Einsamkeit, Abstandhalten, Meinungsvorsicht, Zweifel, Freude an Fragen, Schweigen, das sind die ersten Voraussetzungen, um zu schreiben, und das realisieren zu müssen als junger Kerl, ist ein existenzieller Schock … So begann ich zu meiner Rolle als Schweiger auch die neue Rolle als Zuschauer zu akzeptieren und mit immer mehr Eigensinn aufzuladen und gegen den bissigen Vorwurf: Du hältst dich raus, du tust nichts! die leise Antwort zu finden: Doch, ich tue was, ich schaue zu, ich schaue nicht weg, ich merke mir das, ich hebe das auf.” Hier ist sie wieder, die so charakteristische Delius-Mischung: der sensible, sehr genaue Beobachter und der selbstbewußte, unbeirrbare Erzähler sind eins, sind getrennt nicht zu denken.

Sinn für den Augenblick, Formbewußtsein, Sprachkraft, innere Unabhängigkeit und diese wohltuende Unaufgeregtheit – ist das vielleicht das Delius’sche Geheimnis? Nicht, wenn man ihm selber folgt. In der ihm eigenen Bescheidenheit hat er vor Jahren auf die Frage einer großen Zeitung, was sein Erfolgsgeheimnis sei, geantwortet: “Nicht Sieger sein wollen.”
Im Nachwort zu den ausgewählten Gedichten “Selbstporträt mit Luftbrücke” hat Delius geschrieben: “Wenn Schreiben heißt: mit Sprache einen Platz behaupten, einen Raum füllen, eine Zeit verlängern, etwas Eigenes gegen die Welt setzen, dann gilt das für diese Gedichte.” Und man möchte hinzufügen: Es gilt für Dein ganzes Werk, Christian. Du hast, und das nun fast fünf Jahrzehnte schon, mit Sprache einen Platz behauptet, Raum gefüllt, Zeit verlängert und etwas Eigenes gegen die Welt gesetzt. Was will ein Schriftsteller, oder nehmen wir das Wort des Zehnjährigen: ein Dichter mehr? Was läßt sich Besseres über ein Werk sagen?

Du hast einmal gesagt, lieber Christian – und ich nehme auch das als Ausdruck Deiner Bescheidenheit –, daß Du bei den “Birnen von Ribbeck” zum ersten Mal das Gefühl hattest, jetzt seist Du als Erzähler da, wo Du ungefähr hinwolltest. Dann fügtest Du hinzu: “Und schließlich bin ich immer noch auf dem Weg.” Ja, und, wie wir hoffen, ist es ein sehr langer, gesunder, glücklicher Weg. Du weißt, Fontane hat nach seinem 70. Geburtstag gut zehn Bücher geschrieben. Es gibt also viel zu tun.

Lieber Christian, ich gratuliere Dir, von Herzen!

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