Friedrich Christian Delius, FCD

Günter Kunert

Günter Kunert:

Wenn alle so dächten wie ich, würde ich zu einem Delius werden

Zu F.C. Delius – Laudatio auf den Mainzer Stadtschreiber 1997

Nichts ist so verlockend, wie aus einem gegebenen Anlaß “persönlich” zu werden. Auch ich kann dieser Verlockung nicht widerstehen, noch dazu, da der Anlaß ein Kollege aus der Schreiberzunft ist, nämlich F.C. Delius. Daß ein Schriftsteller über einen anderen etwas Freundliches zu sagen vermag, ist in den letzten Jahren selten geworden. Eher haben wir bei den Auseinandersetzungen über die Berliner Akademie oder den PEN-Club das Gegenteil erfahren. Aber ich will nicht pro domo reden.

Ich habe Delius einiges zu verdanken. Nicht zuletzt Autoreifen sowie einige Fotos, auf denen wir etwas angeheitert und darum übertrieben posieren. Und manche, durch sein Werk beförderte Einsichten.

Kennengelernt haben wir uns in den 60er Jahren durch Vermittlung eines anderen Autors. Der viel zu früh gestorbene Nicolas Born brachte eines Tages einen stillen, blassen Jüngling zu einem Besuch bei uns mit.*) Dieser Gast saß bescheiden am Rande des Tisches und beteiligte sich zurückhaltend am Gespräch. Er wurde gemeinhin nur mit den Kürzeln seines Vornamens genannt: FC, weil die meisten Schriftsteller Fußballfans waren und sogar hin und wieder selber auf dem Spielfeld einer mir fremden Leidenschaft frönten.

Wir sahen uns selten und manchmal an ungewöhnlichen Orten. So zum Beispiel 1972 in Rom, in FCs Geburtsstadt, in der “Villa Massimo”, wo er sein Stipendium absaß, gemeinsam mit Piwitt. Nebenan wohnte Peter Huchel, den wiederzusehen und zu sprechen wir gekommen waren. Delius war damals wohl mehr mit Politik als mit Literatur befasst. Wir hatten unterschiedliche Illusionen, die sich jedoch auf gesellschaftliche Veränderungen bezogen, einerseits in der Bundesrepublik, andererseits in der DDR. Es war die Zeit hoffnungsträchtiger Irrtümer. Trotz gegensätzlicher Ansichten entwickelte sich doch so etwas wie ein Verständnis füreinander. Und als ich für meinen Wagen neue Reifen brauchte, jene in der DDR unerreichbaren Kostbarkeiten, machte sich Delius auf den beschwerlichen Dornenpfad nach Ostberlin und ließ sämtliche Kontrollen und Nachschnüffeleien über sich ergehen, damit ich fernerhin mobil bliebe. Nicht jeder hätte das nach einer doch recht flüchtigen Bekanntschaft getan.

Jenseits des Anekdotischen will ich aber damit sagen, daß mich mit Delius mehr verbindet, als ein kurzes Händeschütteln und ein paar Gespräche. Und selbst unter Schwierigkeiten überbrachte Autoreifen, schaffen kein immerwährendes inniges Verhältnis. Etwas anderes muß hinzukommen, und dieses “andere” will ich zu nennen versuchen.

In bin nie zur Gänze mit dem einverstanden gewesen, was FCs frühe Bücher angeht. Wahrscheinlich war ich selber mit Politik derart überfüttert worden, so daß mir der politische Dichter Delius mit seinen Texten fremd erschien. Die Zeitumstände der späten 60er Jahre unterschieden sich zwischen West und Ost erheblich. Während in Westdeutschland die von Studenten getragene Bewegung einen Wandel zu bewirken begann, wurde in der DDR durch die Liquidierung des “Prager Frühlings” der Status quo zementiert. Dennoch rissen die Beziehungen zwischen den Schriftstellern in Ost und West niemals ab. Delius gehörte zu den häufig nach Ostberlin Einreisenden, die angesichts der Trostlosigkeit des “real existierenden Sozialismus” keineswegs vergaßen, vor der eigenen Tür zu kehren. Bewundernswert seine Unbeugsamkeit, ja, Zähigkeit, mit der er alle Anfeindungen des gehobenen Managements zu überstehen wußte. Er gab nicht klein bei und setzte damit ein Beispiel – auch für Schriftsteller in der DDR.

In seinem letzten Buch “Verlockung der Wörter oder warum ich immer noch kein Zyniker bin” berichtet Delius von den Versuchen, ihn mundtot zu machen. In dieser Sammlung seiner Vorlesungen, die er an der Universität Paderborn gehalten hat, schildert er auf amüsante und humorvolle Weise seine bisherige literarische Karriere. Nach immerhin 17 Büchern, nach Romanen, Theaterstücken, Gedichten, hat Delius eine merkliche Sicherheit im Umgang mit sich selber gewonnen. Schon das vorletzte Buch, die autobiographische Erzählung “Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde”, zeigt den Akt einer mutigen Selbstfindung, das Bekenntnis einer beschädigten Kindheit, von der er sich, sie darstellend, befreit hat. Natürlich taucht jeder Autor mehr oder minder indirekt in den eigenen Texten auf; Literatur, erzählende wie die dichterische, ist ohne das schreibende, wenn auch vielfach maskierte Ich gar nicht denkbar. Doch über das Autobiographische hinaus bietet die Geschichte von der deutschen Fußballweltmeisterschaft ein Exempel, dem ein anderer berühmter Buchtitel entspräche: Die “Erziehung der Gefühle”.

Wie das Erzähler-Ich, abseits großer Städte und in der tiefsten Provinz daheim durch das Radio ins Sportgeschehen einbezogen wird, wie es dem rein akkustischen Erlebnis ausgeliefert ist und dadurch eine maßgebliche und dauernde Prägung erfährt – das ist mit einer großartigen Eindringlichkeit geschildert.

Ich muß gestehen, daß mir eigentlich erst durch diese Erzählung die Bedeutung des Sports, insbesondere des Fußballs, so recht aufgegangen ist. Mich hat Sport nie sonderlich interessiert, nie berührt, und ich fand es vielmehr grotesk, wie sich Menschen emotional von einem banalen Spiel beeindrucken lassen. Daß mein Verständnis dafür gewachsen ist, gehört zu der von Delius wahrscheinlich gar nicht beabsichtigten Nebenwirkung seines Textes. Und das belegt, wie ich meine, die Kunst eines Autors, daß er, abgesehen von der Gestaltung seiner Charaktere, von dem Spannungsfeld, in dem seine Figuren agieren, Wirkungen erzeugt, von denen er selber keine Ahnung hat. Wenn man ein wesentliches Kriterium für ein literarisches Kunstwerk nennen will, dann muß man es mit einem ziemlich abstrakten Begriff bezeichnen: als komplex. Vielschichtigkeit, das Aufdecken immer neuer Züge bei den Personen, ihre menschlichen Dimensionen, das erst macht sie glaubwürdig und lebendig. Dazu muß der Autor sich selber einbringen, ohne Rücksicht und ohne Eitelkeit. Nur das hebt seinen Text schließlich über die ästhetische Konstruktion, über das rein Handwerkliche hinaus. Das Indiz eines gelungenen Werkes besteht darin, daß man es liest, ohne zu bemerken, daß man ein Buch in den Händen hält.

Insofern sind die Bücher dieses Autors weitaus mehr als Zeitzeugnisse, mehr als Stellungnahmen zu aktuellen Vorgängen. “Mogadischu Fensterplatz” ist, entgegen dem Titel, keine Reportage über die Entführung der “Landshut”. Und “Die Birnen von Ribbeck” stellen keine Attacke gegen die Wiedervereinigung dar, wie sie heute schnell geschrieben und billig zu haben ist. In den “Birnen von Ribbeck” werden außer dem scharfäugig gesehenen historischen Augenblick, die Schicksale von Menschen in einer Umbruchsituation festgehalten.

Ich glaube, daß die Stärke von Delius eben darin besteht, sich der Einseitigkeit zu enthalten, sich kritisch in Frage zu stellen, mit einem Wort: als Schriftsteller ehrlich gegenüber sich selbst zu sein. Daß man bei aller Ehrlichkeit auch irren kann, liegt in der Natur der Sache. Aber die Ehrlichkeit ist überhaupt die Voraussetzung fürs Schreiben.

Delius hat seinem letzten Buch ein Motto vorangestellt, ein Goethezitat, das ein Programm enthält: “Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst”. Das bedeutet jedoch eine Gratwanderung zwischen Privatheit und politischer Überzeugung. Bei Delius heißt das in einer Überschrift: “Warum ich kein politischer Autor bin oder Die Bereicherung der Literatur durch politisches Bewußtsein”. Hier bin ich ganz und gar der gleichen Meinung und amüsiere mich, sobald mir, der das Gleiche vertritt, von geistesschwachen Linksdenkern vorgeworfen wird, ich wolle die Literatur “entpolitisieren”. Das politische Bewußtsein, dem ich Zeit meines Lebens nicht zu entgehen vermochte, weiß aber sehr wohl zwischen Literatur und Agitation zu unterscheiden. Goethes Sentenz “Politisch Lied, garstig Lied” zielt just auf jene Verfasser, denen ihre eigenen politischen Absichten das unter diesem Aspekt verfertigte Werk verstimmen und ruinieren.

Diese Gefahr hat Delius erkannt. Und daher gilt sein Credo vor allem und zu allererst den Wörtern, also der literarischen Form.

In seiner Erklärung, ja, fast schon Deklaration, warum er kein Zyniker sei, gibt Delius zu Protokoll: “Ich möchte die Erklärung eher in meinem glücklichen oder sagen wir libidinösen Verhältnis zu den Wörtern suchen, in dem altmodischen Vertrauen auf eine wie immer begrenzte, minimale Wirkung von Literatur und Argument.” Und ferner liest man da: “Wenn man den Feuilletons und Statistiken glaubt, haben die Wörter keine große Zukunft mehr. Der Sieg der Bilder über die Worte scheint festzustehen, die gedruckten Wörter befinden sich in der Defensive gegenüber den elektronischen Medien”. Und resümierend: “Grotesk ist nur die deutsche, die europäische, die weltweite Einäugigkeit, mit der Staaten und Geldgeber die neue Kultur päppeln und die angeblich alte ohne Not zerstören helfen, also die läppischen Millionen für die nicht elektronisch vermittelte Kultur mehr und mehr zusammenkürzen…”

Ich weiß, man spricht im Hause des Henkers nicht über den Strick, aber weil wir es im Falle Delius nicht zuletzt mit diesem sprichwörtlichen Handwerker zu tun haben, können wir auch sein Instrument kaum ignorieren. Ich will uns zwar keineswegs als Opfer des Fernsehens hinstellen, als die Verlierer angesichts der Macht, eher sogar Gewalt der gewalttätigen Bilder, doch läßt sich die Tatsache nicht schönreden, daß das dominierende Medium die Rezeption, sprich Aufnahmefähigkeit verändert hat und fernerhin verändern wird. Ich verstehe Delius sehr gut, der, bis in jede Faser von Literatur durchtränkt, diese Veränderung registriert, ihnen jedoch nicht die gleiche Bedeutung beimißt, wie ich es tue. Wer schreibt, dem wird die Welt, die Umwelt textuell, mit einem häßlich neuen Wort gesagt. Der Blick des Autors auf sein Ambiente wird, ob er das weiß oder nicht, von seinen Kenntnissen, von seiner Lektüre und von seiner seelischen Einbindung in alles Gelesene mitbestimmt. Er lebt in einem durch Ästhetik, durch eben die Wörter strukturierten Raum, der ihm auch darum gesichert erscheint.

Delius spricht optimistisch von der Zukunft der Wörter, und schreibt: “Sprache entstand also, als der Mensch nicht mehr Schimpanse sein wollte. Er brauchte die Wörter, um seine zukünftigen Bedürfnisse voraussehen zu können, er hätte ohne das verlockende Zukunftselement der Wörter sich nicht entwickeln können. (…) In der Sprache, die wir dank der Maschinen schreiben und lesen, läßt sich gewiß auch über künftige Bedürfnisse nachdenken. Ob sie aber auch unsere Sinne und Phantasien beherrscht, hängt von uns ab. Zugespitzt gesagt: Es steht uns fei, ob wir wieder zu Schimpansen werden. Wir haben die Wahl, wie angenehm!”

Lieber FC, du gehst, was ich mit Zuneigung und Achtung sehe, gänzlich von Dir aus, von Deiner Gradlinigkeit, Deiner Aufrichtigkeit, von Deiner Liebe zu den Wörtern, denen Du nur Gutes, gar das Beste zutraust. Aber Du weißt doch ebenfalls, wie sehr die Sprache korrumpierbar ist, wie instrumentalisierbar, wie verderbt und entleert, wie dienstbar, und sie hat, gerade in unserem Jahrhundert, mehr zur Lüge getaugt als zur Wahrheit.

Hierin besteht unsere Divergenz, über die ich dennoch froh bin, weil sie mich angeregt und zur Auseinandersetzung zwingt. Meine Furcht, wenn ich Deine Formulierung von den künftigen Bedürfnissen aufnehmen wollte, besteht eben darin, daß außerhalb unseres Metiers über die künftigen Bedürfnisse schon nachgedacht worden ist, um sie dem entsprechend zu lenken. Ich kann Deine Hoffnungen nicht teilen. Aber ich würde mich unwohl fühlen, wen es nicht Schriftsteller wie Dich gäbe, mit denen der Dialog nicht nur möglich, sondern auch fruchtbringend ist. Würde ich unter Schriftstellern leben, die alle so dächten und empfänden wie ich, gäbe es für mich keine andere Alternative, als zu einem F.C. Delius zu werden. Zu dem notwendigen Gegenpart, ohne den das Geistesleben abstürbe. Daher wünsche ich mir noch viele Delius-Bücher, weil sie meinen immerwährenden Bedürfnissen entgegenkommen. Und Dir selber viel Kraft dazu und die entsprechenden Honorare.

(1997)
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*) Anm.: Hier irrt Kunert. FCD besuchte Kunerts seit Dezember 1963 alle paar Monate. Um 1968 brachte er Nicolas Born zu Kunerts mit.

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