Friedrich Christian Delius, FCD

Tilman Krause: Chronist

Tilman Krause

Gelassener Chronist der Bundesrepublik

Woran erkennt man den guten, den sympathischen 68er? Daran, dass er ein 66er ist! Einen 66er, so nennt er sich gerne selbst, Friedrich Christian Delius, der heute 70 Jahre alt wird. Ein 66er, das ist ein Mensch, der in den Sechzigerjahren fand, dass es in der Bundesrepublik viel zu reformieren gebe, ja dass es eigentlich nicht weiter gehen könne wie bisher. Ein 66er, das ist auch jemand, der damals auf die Straße ging, um seinen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen, der kritisch war und links und aufmüpfig, aber eben nicht verbohrt und ideologisch festgelegt wie der 68er.

Ein 66er, das meint den Typus, der, um einen Buchtitel von Friedrich Christian Delius abzuwandeln, vor dem Berliner Amerikahaus um die Frauen herumtanzte, anstatt als verquälter und verklemmter Stubenhocker seine Jugend an die Methodendiskussionen der Oberseminare zu verschwenden. Der die fröhliche Anarchie des Aufbruchs dem humorlosen Festschreiben politischer Grundsatzfragen vorzog. Der mit anderen Worten des Lebens grünen Baum hinaufkletterte und die graue Theorie unten vor sich hin vegetieren ließ.

Wem das wie ewige Ferien vorkommt, wer glaubt, so könne man es nur zum intellektuellen Leichtgewicht bringen, der irrt gewaltig. Denn des Lebens grüner Baum ist auch Verpflichtung. Folgt ihm doch, recht verstanden, der Anspruch an sich selbst, sich lebend zu entwickeln, sich zu verändern und die Gesichtspunkte ebenso zu wechseln wie die künstlerischen Ausdrucksformen.

Und das tat Delius, der Pfarrerssohn, wobei dahingestellt sei, ob seine ganz spezifisch anti-ideologische Weise, die Welt zu sehen und zu beschreiben, nun seiner Herkunft oder vielmehr ihrer Negation geschuldet ist. Tatsache bleibt, dass dieser Autor, den man mit Recht immer wieder als Chronisten der Bundesrepublik bezeichnet hat, dass also dieser Lyriker und Dokumentarist, dieser frei fabulierende Erzähler und gründlich recherchierende Zeithistoriker in einer Nation und einer Zeit, die alles Mögliche prämiert, aber gewiss nicht die Versatilität und Virtuosität, mit einer Leichtigkeit die unterschiedlichsten literarischen Genres bedient. Was man eher in den glücklicheren Gefilden Westeuropas vermuten würde. Aber wenn es gut geht, gibt’s das eben auch bei uns.

Und so haben wir denn von Friedrich Christian Delius wunderbare Satiren auf die Anfänge des Hochkapitalismus (“Unsere Siemens-Welt”, 1972) und bittere Grotesken über den “heißen Herbst” von 1977 (“Ein Held der inneren Sicherheit”, 1981). Der Jubilar gab uns eine der schönsten deutschen Coming-of-age-Geschichten (“Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde”, 1994) sowie eine der bewegendsten familiengeschichtlichen Spurensicherungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs (“Bildnis der Mutter als junge Frau”, 2006). Die neue Bürgerlichkeit im Gefolge des Regierungsumzugs nach Berlin nahmen wenig literarische Texte so geistreich auf die Schippe wie seine Parodie auf den Historienroman mit dem Titel “Der Königsmacher” von 2001.

Ja, auch das darf nicht verschwiegen werden: Delius setzt seine Tiefbohrungen in deutsche Befindlichkeiten auf dem Pflaster der deutschen Hauptstadt an. Hier hat er immer gearbeitet und geschrieben. Endlich mal kein Landei, das von den angeblich so interessanten Rändern her auf die Gegenwart blickt. Sondern von dort aus, wo nun mal die Musik spielt, und das ist, egal was Frankfurt oder München meinen, Berlin. Seien wir dankbar, dass wir ihn haben. Wünschen wir ihm und uns, dass er noch lange sein literarisches Tanzbein schwingen möge.

(Die Welt, 13.02.2013)

 

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