Friedrich Christian Delius, FCD

Joachim Kalka

Joachim Kalka:

Ein Mann, der sein Metier als Kunst betreibt

Laudatio auf Friedrich Christian Delius
zur Verleihung des Fontane-Preises der Stadt Neuruppin und der Theodor-Fontane-Gesellschaft 2004

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Christian Delius –

Ehrungen sind als öffentliche Rituale immer ein wenig problematisch, aber sie sind auch wichtig. Die Briefe des alten Fontane sind durchzogen von einer Litanei der Resignation: Man beachtet ihn nicht, oder nicht gebührend. Und er leitet daraus etwas noch Weitergehendes ab. Der fast Siebzigjährige schreibt an seine Tochter, tief gekränkt durch das desinteressierte faule Schweigen der Redakteure, denen er – auf ihre Anfrage hin – Gedichte geschickt hat und die nun wochenlang nicht reagieren, das sei natürlich auf allen Gebieten so, überall verachteten die Leute einander insgeheim, er spricht dann von den Beamten, “und namentlich beim Militär hält jeder den andern für einen bis zum Staatsverbrecherischen gesteigerten Schafskopf, aber das Traurigste, weil jeder von der Gleichgültigkeit der Sache durchdrungen ist, ist doch die Dichterei.”
Das Aussetzen von Literaturpreisen ist noch kein Beweis gegen diese Gleichgültigkeit. Aber vielleicht kann es sogar bei einem solchen etwas unwahrscheinlichen Anlaß wie bei der Verleihung eines derartigen Preises gelingen, einmal kurz darauf hinzuweisen, daß nichts weniger gleichgültig ist als das, was bei Fontane “die Dichterei” heißt – weil wir erst durch Literatur zu einem Begriff davon kommen, was wir so obenhin “unser Leben” nennen. Ein Autor wie Friedrich Christian Delius hat mit seinem umfangreichen und großartigen Werk so viel dazu beigetragen, durchsichtiger zu machen, in welche Geschichte wir mit unserem Leben hineingeraten sind, daß man ihm eine Anmerkung zu Fontane widmen darf. Delius hat ohne ostentativen Gestus und mit großer Ruhe, aber sehr konsequent das, was er schreibt, fast immer präzise vom Standpunkt der Negation aus konstruiert. Dieses Negative hat bei ihm oft eine sehr spröde, leise Qualität. Wie es am Schluß seines Gedichtes “Legende vom Bartholomäus” aus der Sammlung Die unsichtbaren Blitze heißt (Sie wissen, daß dem Märtyrer Bartholomäus bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen wurde, und daß er diese Haut auf alten Bildern zum Zeichen seiner Qual und seiner Standhaftigkeit bei sich trägt):

Der trägt seine Haut gefaltet ohne Zeichen von Plage
Über dem Arm wie den Mantel an einem heiteren Frühlingstage.

Wie hier das Wort “heiter” verwendet wird, das mag ein Fingerzeig darauf sein, weshalb heute diese Ehrung im Namen Fontanes stattfindet. Zu den großen (und keineswegs produktiven) Mißverständnissen der deutschen Lektüregeschichte gehört die Auffassung von Theodor Fontane als einem ganz und gar gelassenen Mann der bestehenden Ordnung. Und doch war er ein Mensch und ein Autor, den es an unerwarteten Stellen des Lebens und des Schreibens immer wieder fröstelnd überlief (er litt ja auch äußerlich immer unter einer Erkältungsangst – noch im Denkmal, das wir vorher besucht haben, hängt das unverzichtbare Umschlagtuch über der Lehne des Sitzes). Er empfand fatale Kälte stärker, als sein populäres Bild ahnen ließe. Und er studierte die Symptomatik des Frierens. In dem Gedicht “Ein Jäger”, dessen Titel den Tod meint, schließt er mit zwei Zeilen, welche die Hunde dieses Jägers beschwören, also die Zufälle und Kränkungen und Widrigkeiten des Lebens: “Die Meute, die stückweis das Leben zerfetzt / Und zögernd uns in die Grube hetzt.” Dieses Wort “zögernd”, das der Dichter selbst kursiv hat setzen lassen, fixiert auf unerhörte Weise die triviale Tragik unseres Lebens, dessen Katastrophe sich undramatisch vollzieht, “stückweis”, Tag für Tag. Nicht mit einer tödlichen Wunde, sondern durch unzählige kleine Bisse. An einer solchen Einzelheit wie diesem Zögern der deshalb aber nicht nachlassenden Meute der Wechselfälle des Lebens zeigt sich in Fontanes Lyrik eine sardonische Einsicht, die alles andere als heitere Versöhnung mit Leben und Tod ausspricht, und man begreift über die Gattungsgrenzen hinweg, weshalb sein Erzählen in der Tat zur späten, aber deutlichen Antwort der deutschen Literatur auf den großen Gesellschaftsroman der anderen Nationen geworden ist. Sein Gesellschaftliches drückt Fontane oft mit einer fast provozierenden – weil mit der Aufmerksamkeit des Lesers spielenden – Diskretion aus. Die subtile, gelegentlich heimtückische Beiläufigkeit seiner gesellschaftlichen Reflexion gehört zu ihrer Eigenart und ihrer Größe.
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf ein Gedicht des alten Fontane lenken; es stammt aus dem Jahre 1888.

Heute früh, nach gut durchschlafener Nacht
Bin ich wieder aufgewacht.
Ich setzte mich an den Frühstückstisch,
Der Kaffee war warm, die Semmel war frisch,
Ich habe die Morgenzeitung gelesen
(Es sind wieder Avancements gewesen).
Ich trat ans Fenster, ich sah hinunter,
Es trabte wieder, es klingelte munter,
Eine Schürze (beim Schlächter) hing über dem Stuhle,
Kleine Mädchen gingen nach der Schule –
Alles war freundlich, alles war nett,
Aber wenn ich weiter geschlafen hätt
Und tät von alledem nichts wissen,
Würd es mir fehlen, würd ichs vermissen?

Es geht mir nicht so sehr um die Radikalität, mit der hier ein leiser Autor wie Fontane die “Freundlichkeit” des Lebens (alles war freundlich, alles war nett) in Frage stellt – in Frage stellt als etwas, das am Ende genau so gut ist wie (und nicht besser als) gar nichts. Es ist vielmehr die merkwürdige Zeile, die fast in der Mitte des Gedichts steht und gleich vorüber ist und dann irgendwann beim Wiederlesen des Gedichts im Laufe der Jahre plötzlich einen kleinen Schock auslöst. “Eine Schürze (beim Schlächter) hing über dem Stuhle.” Hier scheint einen Augenblick lang ein Messer aufzublinken, ein Beil… Es ist ein beunruhigendes Detail. Ist es nicht eine blutige Schürze, die hier über dem Stuhle vor dem Laden des Schlächters hängt? Die Fontane-Forschung hat sich in ihren Anmerkungen zu diesem Gedicht, so weit ich sehe, seltsam eilfertig bemüht, diese Beunruhigung zu zerstreuen – mit untauglichen Mitteln, denn sie verweist auf volkskundliche Belege, die besagen, es habe zu den Usancen des Berliner Metzgerhandwerks gehört, am Schlachttag eine weiße Schürze hinauszuhängen, und fügt noch hinzu, die Schlachttage hätten auch in Fontanes Kindheitserinnerungen eine große Rolle gespielt. Das stimmt – aber welche? Liest man die entsprechenden Abschnitte im neunten Kapitel von Meine Kinderjahre nach, dann erfährt man, wie das Kind in den Wochen vor Weihnachten “halb krank” ist von den unausgesetzt das Haus durchwehenden Fettschwaden, wie der Junge noch als Halbwüchsiger so empfindet wie damals, “wo ich, kaum siebenjährig, aus der Stadt hinaus auf Alt-Ruppin geflohen war, um sowohl dem Anblick wie der ganzen Skala ohr- und herzzerreißender Töne” – beim Schweineschlachten – “zu entgehen”. Er glaubte zwar später, “alles mannhaft mit durchmachen” zu müssen, doch dem folgt der Nebensatz: “auch wenn sich die eigenste Natur dagegen auflehnt”. Hinter dieser einen Zeile, hinter der Schürze, die blutig ist, auch wenn sie weiß wäre, tauchen Bilder auf, die gleichzeitig friedlich und ungeheuerlich sind.
Das geschlachtete, aufgeklappte, aufgehängte, in prachtvoll brutalen Fleischfarben schimmernde Schwein ist manchmal auf den Bildern der alten Meister Hollands zu sehen, bei Rembrandt etwa. Gelegentlich steht da ein kleines Kind dabei und bläst spielerisch die Schweinsblase auf wie einen Luftballon. Gleich wird sie wieder zusammenfallen, sie ist ein Symbol der Vergänglichkeit, und ein solches ist natürlich auch der geschlachtete Kadaver, ist die Schürze, sie sei weiß oder blutig. Aber über dieses Memento mori hinaus ist die Schlächterschürze auch ein Zeichen für jene in unser Leben tief eingelassene alltägliche Gewalt, die der flüchtigste Blick auf die Straße zeigt.
Ich will hier nicht von den preußischen Tugenden sprechen, nicht nur, weil sie bereits historisch zwiespältig sind, sondern weil Fontane selbst an zentralen Stellen vor allem seiner Altersgedichte hier einen überraschend despektierlichen Ton angeschlagen hat: “Altpreußischer Durchschnitt”, schreibt er beim Rückblick auf sein Leben, “summa summarum: / Es drehte sich immer um lirum larum. / Um lirum larum Löffelstiel. / Alles in allem: Es war nicht viel.” Aber vielleicht sollte man stattdessen einen havelländischen Satz zitieren, den in Friedrich Christian Delius’ von Fontanes Phantom durchgeisterter Erzählung Die Birnen von Ribbeck aus dem Jahre 1991 der monologisierende Bauer – nach der sogenannten Wende erbittert, verwirrt, begeistert, fast hoffnungslos, voller Furcht – mit großer Bestimmtheit und immer noch auf die Ferne einer nicht abzusehenden Zukunft bezogen sagt: “… darauf hab ich lang genug gewartet, daß die einfachen Dinge funktionieren.”
Ein solcher Satz – beiläufig, entscheidend – enthält vielleicht in noch stärkerer Konzentration als Delius’ bedeutsame Erzähltexte zur dramatischeren Zeitgeschichtlichkeit – denken Sie an Titel wie Unsere Siemens-Welt oder Ein Held der inneren Sicherheit oder Mogadischu Fensterplatz – als Extrakt eine Gesellschaftskritik, eine gleichzeitig distanzierte und engagierte. Eine Kombination von Engagement und distanzierter Betrachtung, wie sie gerade auch der letzte große Roman Mein Jahr als Mörder zeigt, der in diesem Jahr erschienen ist und eine Beschreibung insbesondere der sorgfältig blinden bundesrepublikanischen Justiz der sechziger Jahre und des radikalen studentischen Milieus verbindet mit einer eigentlich kleinen biographischen Geschichte von alltäglicher bürokratischer Schweinerei. Die bis zur Unauffälligkeit gesteigerte Beiläufigkeit, das nebenher Gestreifte des Monströsen; das scheinbar kleine Bild – “Schaufensterpuppen mit geballten Fäusten”, wie sich einer der Erzähler bei Delius einmal notiert – : das sind charakteristische Mittel. Der Autor verhält sich ganz ruhig, aber unerbittlich – unerbittlich nicht seinen Gestalten gegenüber, aber der Logik der Geschichte, in die sie verwickelt sind. Zu dieser Verwicklung gehört jedoch auch eine zusehends stärker in den Vordergrund rückende Unübersichtlichkeit, eine moralische Komplexität, die Delius in seinen Fiktionen mit höflicher Trockenheit beschreibt, ohne damit irgendeinen Schuldigen zu entlasten. Die Marginalität wird zum Sprechen gebracht: Delius hat lange vor dem pompösen Film über jenes Fußballspiel in Bern, schon vor einem Jahrzehnt, in Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde das eigenartige Geheimnis jenes Sieges rekonstruiert, mit den intimen Mitteln der Kindheitserzählung. Er zeichnet in seinem Spaziergang von Rostock nach Syrakus die Geschichte des Kellners Paul Gompitz aus Rostock auf, der sich (auch ein Exempel für die Kraft der Literatur) nach der Lektüre von Seumes berühmtem Spaziergang nach Syrakus trotz aller Verbote 1988 über die Grenze der DDR stahl, um nach Italien zu reisen und dann wieder nach Rostock zurückzukehren: eine kleine wahre Begebenheit, so, wie Delius in Die Flatterzunge eine kleine, ins Herz der deutschen Geschichte zielende Skandalmeldung der Zeitungen aufgegriffen und verwandelt hat. Hier verdoppelt die Literatur die Realität und macht sie zur Wirklichkeit.
Fontane schrieb im August 1882 – also als bereits Zweiundsechzigjähriger – von Norderney an seine Frau in einem Brief, in dem er eine Art Bilanz seiner Entwicklung zieht, er sei erst ab einem gewissen Punkt seiner Laufbahn tatsächlich “ein Schriftsteller geworden <…> d. h. ein Mann, der sein Metier als eine Kunst betreibt, als eine Kunst, deren Anforderungen er kennt. Dies letzte ist das Entscheidende. Goethe hat einmal gesagt” – dies ist immer noch die Stimme Fontanes – “‘die Produktion eines anständigen Dichters und Schriftstellers entspricht allemal dem Maaß seiner Erkenntniß.’ Furchtbar richtig.” Die Einsicht, die hier Fontane in dem selbstbewußten und doch auch wohl von Besorgnis nicht ganz freien Ausruf: Furchtbar richtig! unausgesprochen läßt, ist die, daß es nach dem Maßstab dieser Formulierung kaum Schriftsteller gibt. Friedrich Christian Delius gebührt – wenn ich das Zitat nun noch einmal mit einer Nutzanwendung wiederholen darf – der Fontane-Preis, weil er diese Seltenheit darstellt: den Schriftsteller. Also einen Mann, der sein Metier als eine Kunst betreibt; als eine Kunst, deren Anforderungen er kennt. Und der nach Theodor Fontane benannte Preis gebührt ihm zufolge dem Maß seiner Erkenntnis.

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