Friedrich Christian Delius, FCD

Helmut Böttiger

Helmut Böttiger

Dorfanger und Pflasterstein

Der Held und sein Wetter: Friedrich Christian Delius wird heute 70

Friedrich Christian Delius war 11 Jahre alt, als er Weltmeister wurde. In einem seiner schönsten Bücher hat er das als große Welterfahrung in Szene gesetzt: im elterlichen Pfarrhaus im oberhessischen Wehrda gab es parallel die Predigtvorbereitungen des Vaters und die Anrufungen des „Fußballgottes“ durch Herbert Zimmermann, dem Radio-Reporter des Endspiels zwischen Deutschland und Ungarn im Jahre 1954. Das Pfarrhaus konzentriert alle deutschen Tugenden, alle deutschen Pflichten und Härten, und der Weltmeister-Titel entwickelt sich konsequent aus diesem Tagesablauf heraus. 

Friedrich Christian Delius war 23 Jahre alt, als er vor dem Amerikahaus in Westberlin stand, bei der ersten Demonstration gegen den Vietnamkrieg – aber eher in den hinteren Reihen. Einen Pflasterstein warf er nur einmal, zwei Jahre später in London, und auch nur, um einer Freundin zu imponieren, die es auf zwei brachte. Und das knüpfte in merkwürdiger Weise an jenen Sonntag im Jahr 1954 an, als er nach der Radioübertragung ein paar Minuten auf die anderen wartete. Er brauchte sie, um den Weltmeistertitel genießen zu können, aber die Einsamkeit auf dem Dorfanger, die ewig scheint, wirft einen auf sich selbst zurück.

Friedrich Christian Delius war 47 Jahre alt, als er die jüngere deutsche Literaturgeschichte auf besonders effektvolle Weise abrundete: er war der letzte Lesende bei der letzten, nach Jahrzehnten nachgeholten Tagung der Gruppe 47, im Jahr 1990 bei Prag. Bereits 1964 hatte er dort debütiert, und jetzt las er, in einer historisch völlig veränderten Situation, aus seinem neuesten Manuskript über „Die Birnen von Ribbeck“ – ein Buch, mit dem er wieder eine neue Phase in seinem Schaffen einläutete, konzise Chroniken und Mitschriften aus dem deutschen Leben, die schließlich 2011 zum Büchner-Preis führten.

Delius verkörpert die Zeitgeschichte wie kaum ein anderer der aktuellen deutschsprachigen Autoren. Er wurde mit zwei gesellschaftskritischen Dokumentartexten im Agitprop-Stil zu einem der Wortführer der 68er-Bewegung: „Unsere Siemens-Welt“, einer fingierten Festschrift 1972, sowie der „Moritat auf Helmut Hortens Angst und Ende“, einer Satire von 1975 auf den damaligen Kaufhauskönig. Nach dem Zerwürfnis im linken Kultverlag von Klaus Wagenbach wurde Delius Lektor des „Rotbuch-Verlags“ und betreute dort Autoren wie Heiner Müller, dessen legendäre Ausgabe in Einzelbänden bei Rotbuch auf ihn zurückgeht. Irgendwann nannte er sich dann nicht mehr vorwärtsstürmend „FC Delius“, dem Aufreißen utopischer Horizonte entsprechend, sondern griff auf das solide „Friedrich Christian Delius“ zurück. Und er entschied sich dazu, freier Schriftsteller zu werden. Sein erstes großes Projekt nahm sich den „Deutschen Herbst“ vor, den gesellschaftlichen Wendepunkt 1977. Es entstand eine Romantrilogie, die zu den wichtigsten literarischen Zeugnissen der Bundesrepublik überhaupt gehört: „Ein Held der inneren Sicherheit“ (1981), „Mogadischu Fensterplatz“ (1987) und „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ (1992).  

Delius genießt mittlerweile wohl deshalb von allen Seiten Respekt, weil er sich, im Gegensatz zu etlichen Weggefährten seiner Generation, immer treu geblieben ist. Seine Haltung, die man getrost als „linksliberal“ bezeichnen kann, erscheint angesichts des landläufigen Opportunismus als redlich, abseits jeglichen Zynismus. Literarische Sensibilität und politische Aufmerksamkeit durchdringen sich bei Delius in heute seltener Weise, und es ist eine hübsche Pointe der jüngeren Zeitgeschichte, dass ausgerechnet Delius, der in den engeren Zirkeln vor allem als „Schweiger“ auffiel, früh als einer der größten Revoluzzer galt.  

1971, mitten im Polittrubel, wurde Delius‘ Dissertation veröffentlicht: „Der Held und sein Wetter“, mit einer Huldigung an den fränkischen Phantasten Jean Paul. In der Einleitung stellt der Autor etwas zerknirscht fest, dass er wohl nicht zu einer „materialistischen Literaturkritik“ vorgedrungen sei. Gemach, gemach: schon in seiner Dissertation hat die Literatur gesiegt, und sie hat es in den Werken von Delius immer wieder getan. Heute abend wird er seinen 70. Geburtstag in Berlin feiern, nicht in Rom, wo er zur Hälfte wohnt, und er wird es wohl nicht nur mit grünem Tee tun, der ihn ansonsten zuverlässig begleitet. Herzlichen Glückwunsch! 

(Süddeutsche Zeitung, 13.02. 2013) 

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