Friedrich Christian Delius, FCD

Sibylle Lewitscharoff

Sibylle Lewitscharoff

Laudatio auf Friedrich Christian Delius zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2011

Ich muß dem heute zu Ehrenden einen Vorwurf machen: Das FC. Nun kann man zwar verstehen, daß ein fußballbegeisterter Mann, der als Bub dem deutschen Sieg 1954 in Bern eine wundersame Befreiung verdankte, verlockt war, durch das Buchstabenkürzel seines Vornamens sich selbst zu einem Fußballclub zu machen – ich gebe zu, FC Delius klingt Ballnarren gewiß gut in den Ohren –, aber ein arges Zurückweichen vor den größeren Möglichkeiten, die in den beiden herrlichen Vornamen schlummern, ist dies schon.

Erinnern wir uns: ein deutsches Kind, ein romgeborenes zumal, wird auf den Namen Friedrich getauft! Da lodert sofort der Kaisername des hochmögenden Staufers auf, des sizilianischen Friedrich, der interessantesten Kaiserfigur, die auf europäischem Boden je existiert hat, eines gelehrten und sprachsinnigen Herrschers obendrein. Heißen zu dürfen wie ein Kaiser, den Dante mehrfach, indirekt sogar huldigend erwähnt hat, das ist ein gewaltiges Kapital, von dem ein Schriftsteller fröhlich zehren könnte.

Der andere Friedrich, der berühmte Preußenkönig, dem die Eltern sich verbunden fühlen mochten, ist in diesem Namen natürlich auch nicht fern. Und der zweite, hinterdrein vergebene Vorname sitzt ebenfalls perfekt. Was im ersten Vornamen ins Gebieterische und Große weist, wird im zweiten Vornamen im Hinblick auf eine noch größere Figur zurückgedämmt und ins Gefälligere erweicht. Ein Christian hat nicht mehr die versammelte Christusbürde zu tragen und wird nicht ans Kreuz genagelt, dafür sorgen das ins Zartere und Lieblichere spielende i, das a und das n. Und beide Vornamen verbinden sich klanglich exzellent mit dem schönen Nachnamen. Gäbe es Friedrich Christian Delius nicht schon in Fleisch und Blut, wäre sein zündender Name mir zum Beispiel bei einem Spaziergang eingefallen, ich hätte sofort damit begonnen, einen Roman um ihn herumzuzwirbeln.

Kurzum: die Eltern haben es gut mit ihm gemeint.
Etwas davon, nämlich daß ursprünglich alles gut war, merkt man seiner hinreißenden Erzählung an – dem Buch über die Mutter als junge Frau, die mit ihrem ersten Kind, dem werdenden Friedrich Christian, im Bauch, durch Rom spaziert. Bei aller gebotenen Skepsis, die der Autor in das Büchlein an manchen Stellen hineinwehen läßt – immerhin, wir befinden uns 1943 in einem faschistischen Land, das mit Deutschland verbündet ist, und die junge Schwangere ist nicht eben eine kluge oder gar mutige Analystin der politischen Lage –, ist es doch ein äußerst verständiges und liebenswürdiges Buch über die eigene Mutter, sanft und nachsichtig und sehr fein hineinhörend in die Nöte einer jungen Frau, die zuvor noch nie im Ausland gewesen ist, die kein Italienisch spricht, deren Mann in Afrika dient und die nun ihr erstes Kind fern von allem familiären Beistand allein in Rom zur Welt bringen muß.

Es gibt nicht viele Bücher über Mütter, die nicht von Groll und Bitterkeit angefressen sind und noch dazu fähig, ein glaubhaftes Bild von einem sehr jungen Menschen zu liefern. Denn sobald wir als Kinder auf der Welt sind und sich unser Erinnerungsvermögen entwickelt, sind unsere Mütter nicht mehr gar so jung, sondern rücken durch unsere tatkräftige Mithilfe unmerklich ins Alter.

Um noch einen Moment bei diesem Buch zu verweilen: die Bewegung des Spazierengehens wird geschickt dadurch betont, daß die Absätze ohne Punkttrennung gleichsam schlendernd weitergehen, wie auch die Sätze, bis auf den allerletzten, ohne Punkt auskommen, wobei die Absätze selbst wiederum in einem annähernd ähnlichen Längenmaß gehalten sind, so, als würden jeweils ein paar Schritte gemacht, der Schritt dann verlangsamt, und im nächsten Absatz das übliche Schlendermaß wieder aufgenommen. Zur Auffädelung einer Geschichte, in welche die Sorgen um den Mann im Krieg nach der Niederlage Rommels in El Alamein, Erinnerungen an die deutsche Familie und Beobachtungen auf den römischen Straßen locker – eben in der Art eines Spaziergangs – eingetragen werden, paßt es wunderbar, daß gleich zu Anfang ein römischer Arzt der jungen Schwangeren empfiehlt, zu laufen und zu laufen, nur zu laufen.

Etwas kitschig ausgedrückt: das ist ein kleines Schmuckstück von einem Buch, zart und schön und unaufdringlich, sachte, leise und eher beiherspielend als allzu direkt erhellend, wie in der Perspektive einer jungen Protestantin, allein gelassen im römisch-katholischen Meer, die damaligen politischen Verhältnisse sich gezeigt haben mochten, einer Frau, die noch wenig von der Welt gesehen hat, der die römische Opulenz und die römischen Männer ein wenig unheimlich sind. Wie gesagt, für gewöhnlich gibt es kaum so versöhnliche Bücher über Mütter, gar eines mit der Pointe im Kopf des Lesers, daß im Bauch der Mutter ein Winzling schon im Begriff ist, mit den Schreibfingerchen zu spielen, um zu einem Friedrich Christian heranzureifen.

An dieser Stelle seien einige Bemerkungen in eigener Sache erlaubt. Obwohl ich seit meinem siebten Lebensjahr wenig anderes getan habe als zu lesen – deutsche Schriftsteller der Generation nach Thomas Mann las ich nicht, ums Verrecken nicht. Die deutsche Verbrechensschuld schien mir auf die Nachgeborenen als schreckliche Erblast zu wirken und zu verhindern, daß sie gut schrieben oder gute Filme machten. Sie schrieben in meinen Augen nicht, sondern bosselten an einem öden Realismus herum, die Ostschriftsteller so sexy wie das Schuhwerk, das sie trugen, die Westschriftsteller als nabelzentrierte, depressive Krümelkacker. Humorlos bis ins Mark alle beide. Ja, die Österreicher schrieben wie die Weltmeister, die Franzosen, die Italiener, die Nord- und Südamerikaner schrieben mit muskulöser Erzählkraft und kühnen Konstruktionen. Bei den Deutschen hingegen tote Hose. Ehrenhalber sei hinzugefügt, daß ich dieses Verdikt auch auf mich selbst bezog. Ich brachte aus den genannten Gründen auch nichts zustande, was der Veröffentlichung wert gewesen wäre, und war schon bereit, mich in mein Schicksal zu fügen.

Dann kam der Fall der Mauer, alles wurde aufgemischt, alte Ressentiments verschwanden, neue tauchten auf, ich war in der neutralen Schweiz, hatte nichts zu lesen – Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde lag auf dem Nachttisch. Gleich auf der ersten Seite war ich von den Tonschlägen der Glocken, die den zarten Körper eines Jungen wachschlugen, wie elektrisiert: der Mann, der da aus der Rückschau über sich selbst schrieb, schrieb gut, sogar exzellent! Ein paar Mal drehte ich das Buch ungläubig um, um mich zu vergewissern, ob das auch wirklich der Delius sei, von dem ich natürlich wußte, daß er existiert, dem ich bisher aber rein gar nichts zugetraut hatte.

Aber ja! Aber nein! Ein erstklassiges Buch. Wunderbare Landschaftsbeschreibungen, leuchtende geradezu, ein einfaches bäuerliches Leben in einer spärlich besiedelten hessischen Gegend, die Verhaltensregeln der Sonntagsabläufe in einer Pfarrersfamilie, alles streng geregelt, mit einem gedrückten Knaben als Protagonisten, einer zutiefst sympathischen Figur, mit der geheimen Macht begabt, sich im Leserherz einzunisten und dort einen festen Platz in der erweiterten Buchfamilie einzunehmen und auch zu behaupten. Fabelhaft die erlösende Schlußszene, auf die alles zuläuft, wie der Bub am Radio der Übertragung des berühmten Weltmeisterspieles aus Bern lauscht, erst leise, um die Eltern beim Mittagsschlaf nicht zu stören, und wie er dann, nach dem berauschenden deutschen Sieg, auf dem Kirchplatz steht – so leicht fühlte ich mich nie, und unter dem pulsierenden Siegesgefühl lag eine tiefe, verzweifelte Ahnung, was es heißen könnte, befreit zu sein von dem Fluch der Teilung der Welt in Gut und Böse, befreit von der Besatzungsmacht, dem unersättlichen Gott, und vielleicht auch die Ahnung von der begrenzten Dauer dieses Glücks, einmal ungebremst Ja! sagen zu können – alles, wirklich alles ist stimmig eingefangen und sprachlich präzise gefaßt in diesem Buch, obendrein genau reflektiert, ein filigranes Wundermaschinchen, ein literarisches Schnurrwerk der zauberischen Sorte.

Überdies hatte es den schönen Nebeneffekt, daß mir das evangelische Pfarrersglöckchen allerliebst und nicht wie ein Donnerschlag in die Ohren klingelte; besonders beim Sonntagsmahl der Familie Delius wurden die Erinnerungen an meine fromme Großmutter wach, eine fürsorgliche Nahrungsverwalterin, bei der nichts auf den Tisch kam ohne Segensspruch, die liebste Person in meinem Kinderherzen, die mir zart über den Kopf strich, wenn ich das Händchenfalten schön hinbekommen hatte.

Wohl wahr, bei den Büchern, die wirklich zünden, gibt es geheime Seelenverwandtschaften, selbst wenn sie geradezu paradox gelesen werden, in meinem Falle nicht ängstlich auf die Gottesmarter hin, welche ich nie empfunden habe, sondern mit einem friedlich heiteren Blick nach oben.

Bekannt wurde Friedrich Christian Delius aber mit einem ganz anderen Buch. Mit Unsere Siemens-Welt, einer ironisch gefakten Denkschrift, scheinbar aus dem Hause Siemens, mischte er die halbe Republik auf. Daß sich der Riesenkonzern dieses Flohs mit Hilfe einer Prozeßflut erwehrte, was das Buch naturgemäß erst recht berühmt machte, wirkt heute nur noch komisch. Wer die Zeit aber erlebt hat – wir befinden uns jetzt im Jahre 1972 –, der weiß, wie erbittert die politischen Verhältnisse damals waren, rührte einer mit dem Fingerchen den Grund der braunen Suppe auch nur ein bißchen auf. Damals waren die Firmen noch weit davon entfernt, einen unabhängigen Historiker in ihr Archiv zu lassen, um zu erforschen, wie es denn um die Beschäftigung von Zwangsarbeitern, KZ-Insassen und Lieferungen an die Wehrmacht stand.

Obwohl Delius ein sogenannter Achtundsechziger war, hat er doch die Klugheit besessen, sich parteilich nicht davon auffressen zu lassen. Auch als Chronist der Zeit, als der er sich in vielen seiner Bücher zeigte, Chronist, der die neuralgischen Punkte der Bundesrepublik in seinen Büchern untersuchte, zum Beispiel indirekt, mit Hilfe literarisch verwandelter Protagonisten, die Verschleppung und Ermordung Hans Martin Schleyers, so wahrt er doch immer einen klugen unabhängigen Standpunkt, und die Freiheit des Literarischen bleibt nicht auf der Strecke. Im genannten Fall, dem Helden der inneren Sicherheit, ist dafür geschickt die Perspektive eines Untergebenen des Verschleppten gewählt, und der Arbeitgeberverband ist nicht der Arbeitgeberverband, sondern ein Verband der Menschenführer. Wahrlich, nicht schlecht erfaßt! Das spitzig gewordene Wort Führer würmelt darin herum, was paßt, denn nicht wenige der älteren Herren des Verbandes haben es sich als junge Männer in der NSDAP recht wohl sein lassen.

Aus heutiger Sicht kann man ohne Übertreibung sagen – Delius und etliche andere Leute seiner politischen Ausrichtung haben viel zur Demokratisierung der Bundesrepublik beigetragen, indem sie sich an die heiß umbrandeten Themen wagten, ohne einer sterilen Freund-Feind-Schematik zu verfallen.

Sein Roman Mogadischu Fensterplatz führt die Qualen der in einem Flugzeug eingesperrten Geiseln, Qualen, die über mehrere Tage gehen, all die körperlichen und seelischen Zumutungen, die verzweifelten Assoziationsketten und Gedankenfluchten, die sich in hoher, nicht enden wollender Not einstellen, mit eindringlicher Schärfe vor. Das geht unter die Haut, da wird nicht betulich ’rumerzählt, schon beim Lesen der ersten Seiten wird’s einem entsetzlich eng, und man will mit der Frau, die da spricht, raus, nichts als raus. Mit einer klammheimlichen Glorifizierung terroristischer Aktionen hat das Buch rein gar nichts zu schaffen. Flugängstlichen muß davon dringend abgeraten werden.

Mit der Flatterzunge gar hat er sich auf das heikelste der heiklen Gebiete vorgewagt, hat versucht in romanhafter Anlehnung an einen wirklichen Vorfall, ins Innere eines Musikers vorzudringen, der bei einem Gastspiel der Deutschen Oper Berlin in Tel Aviv einen Getränkebeleg mit Adolf Hitler unterzeichnet und damit einen Skandal ausgelöst hat.

Auch diese Erzählung ist gelungen, keine Kleinigkeit fürwahr. Denn hier hatte Delius gleich mehrere Hindernisse zu überwinden. Mit einem eher unsympathischen als sympathischen Gesellen eine Erzählung zu bestreiten ist eh nicht einfach.

Über Nacht zum Outlaw geworden, arbeitslos, verbarrikadiert in einer Mischung aus Trotz und Bitterkeit, gestachelt vom anarchistischen Trieb, streunt der Posaunist durch Berlin und versucht aufzuschreiben, was ihm in jener Schicksalsnacht widerfahren ist, als ihm, schon betrunken, ein Kellner unsympathisch vorkam und er jenen verhängnisvollen Namen hinkritzelte. Kein Rechtsradikaler wohlgemerkt, einer, der es weit von sich weisen würde, wenn man ihn als Judenfeind bezeichnete, ein gedrückter Mann, hadernd mit seinem Musikerschicksal in der hintersten Reihe, hadernd mit den Frauen und einer längst zerbrochenen Ehe. Es ist geradezu ein Lehrstück über die Gewalt des Unbewußten, das plötzlich hervorbricht, einen Sturm auslöst und hernach nur mühsam, und auch dann nur in Bruchstücken, dem rationalen Denken, der Erklärung zugeführt werden kann.

Mich hat es beim Lesen daran erinnert, was mir selbst in solchem Zusammenhang einmal widerfahren ist. Nichts wirklich Schlimmes, ich war weder betrunken, noch provokationslüstern, noch aggressiver Stimmung, und auch nicht in Tel Aviv, sondern bloß im Literarischen Colloquium am Wannsee, und zwar in Erwartung einer Lesung von Yoram Kaniuk. Am Tresen bestellte ich ein Mineralwasser und leerte meinen Geldbeutel, um die vielen kleinen Münzen darin loszuwerden, sagte zu dem Mann, der das Glas füllte, hier hätte ich eine kleine Halde – sogleich flogen mir Bilder von Brillenbergen und anderen Verlassenschaften durchs Hirn –, und ich fuhr fort: auf einer Rampe; das Blut schoß mir zu Kopfe, ich brachte die Münzen zusammen und fügte allen Ernstes hinzu, hier sei ein kleines Lägerle, und schob es dem Mann hin. Ein Dreierschlag wie im bösen Witz. Im Unbewußten womöglich ausgelöst durch die Verbindung der Wörter Wannsee und den Namen Kaniuk. Gottlob gab’s keine Zeugen, der Empfänger hinter dem Tresen hörte offenbar nicht richtig zu. Aber meine Verwirrung und Beschämung waren groß.

Die mir gewährte Zeit ist nun um. Noch etliche lobende Worte könnten fallen, etwa über Die Birnen von Ribbeck oder den Spaziergang von Rostock nach Syrakus, oder über die Versuche als junger Dichter, anfänglich ein wenig in der Nachfolge Bert Brechts – ich will es aber bei einer Erinnerung bewenden lassen:

Viele Jahre lang hat unser Mann als Lektor erst bei Wagenbach, später dann bei Rotbuch gearbeitet. Mit welchem Autor man auch immer spricht, dessen Manuskripte er in dieser Zeit zwischen die Finger nahm – ihm wird ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt. Er war ein guter, dem jeweiligen Autor sehr zugewandter Lektor. Das ist kein kleines Verdienst, besonders bei jemandem, in dem selbst das Verlangen rumort, zu schreiben und sich bei der Arbeit als Lektor Zurückhaltung auferlegen muß.

Kurzum, wir ehren hier einen integren Mann und einen Schriftsteller, der mehr als nur ein heißes Eisen angefaßt und dabei kühlen, will heißen: klugen Kopf bewahrt hat.

Nun hat der eine oder andere Kommentator Delius letzthin ein wenig gezwiebelt, und ich denke, das könnte vielleicht aus Gründen geschehen sein, die mit der Abneigung oder Allergie der Jüngeren gegen die sogenannten Achtundsechziger zu tun haben. Da ich mich selbst zur Halbstarkentruppe der damals politisch Erregten zähle und auf Zusammenhalt aus bin, bittet die Genossin Lewitscharoff, Mitglied von Spartacus Bolschewiki-Leninisten, jetzt den parteilosen Genossen Delius aufs Podium, um mit seiner Rede zu beginnen –

(c) Sibylle Lewitscharoff
Oktober 2011

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