Friedrich Christian Delius, FCD

Hans-Jürgen Schmitt

Hans-Jürgen Schmitt, F.C. Delius wiedergelesen, 50 Jahre danach

Zu F.C. Delius am 2. September 2015 im Literaturhaus Berlin

Was sagt man in diesem Moment zu einer Gedichtsammlung, die längst exemplarische Spuren  hinterlassen hat, die rezipiert, kritisiert – und  vom Autor klug kommentiert ist, und zwar schon 1993 in Selbstporträt mit Luftbrücke? Als ich nämlich jetzt mit Bleistift lesend in Unsichtbare Blitze bei dem Gedicht Panik für Deutschland anlangte und den Zeilen „Augenblicke festhalten/ ist mein Metier“, dachte ich, das könnte sein Programm sein. Dann las ich zum Schluß Ihr Nachwort, lieber F.C. Delius, nun, da hatten Sie auch schon diesen Satz herausgehoben. Wieder nix, dachte ich. Jeder Kritiker ist eben doch  nur das traurige Ende von dem, was der Dichter längst für sich entschieden, gedacht, gemacht hat. So erging es nämlich auch jenem Jazzkritiker Bruno in der berühmten Erzählung Der Verfolger des Argentiniers Julio Cortázar. Bruno hatte eine Musik-Biographie über den Saxophonisten Johnny Carter alias Charlie Parker geschrieben, merkt aber, als er nach Monaten wieder auf den nun Todkranken trifft, dass er ihm eigentlich nicht gerecht geworden ist mit der stupiden Dialektik des Lobens und Verdammens. Ich will hier nicht weiter vereinfachen, was hochkomplex und subtil von Cortázar erzählt wird. Ich empfand mich in einer ähnlichen Lage, als ich damals F.C. Delius ersten Gedichtband Kerbholz für das Büchertagebuch der Frankfurter Allgemeinen – Vorgabe dreißig Zeilen- besprechen sollte. Wie wird man einem jungen Dichter mit seiner ersten Buchpublikation gerecht? Wie z.B. seinen allzu luftigen Spruchgedichten? Wie kommt man aus der eben zitierten Falle heraus? Ich kam nur schwer heraus und suchte darum meine Zuflucht bei einem Satz Robert Walsers und begann so meine Rezension: „Robert Walser hat einmal einen sanft ironischen Rat gegeben, wie man Lyriker behandeln sollte: >Nehmt Lyriker, ich fleh’ euch an, so als ob sie Mädelchen wären, denen gegeben ist, vor der leisesten Antastung zu zittern.<  Aber eher war doch ich derjenige, der sich hier befangen fühlte und vielleicht zitterte, einen zarten Lyriker, den ich in personam nicht kannte, in der FAZ angemessen vorzustellen. Bei genauerem Lesen seiner Verse konnte der junge Dichter aber nicht so schwach sein, denn er teilte doch schon ganz kräftige Tritte ans Schienbein aus. Kerbholz? „Der hat was auf dem Kerbholz“, eine Redensart, die heute die jüngeren Generationen wahrscheinlich nicht mehr verstehen. F.C. Delius hat das damals in seinem Band mit „nicht schuldlos sein“ erklärt. In einer neuen Auflage in Mayers großem Taschenlexikon ist „Kerbholz“ noch aufgeführt, und zwar heißt es dort: „ im Rechtsleben des MA. Häufig ein längs gespaltener Holzstab, in dessen beide Hälften Kerben zur Zählung und Abrechnung von Schuldenforderungen, Leistungen oder Zeitangaben eingeschnitten wurden. Die Inhaber der Hälften kontrollierten die Richtigkeit der Kerben durch deren Aneinanderfügen.“

Steckt darin nicht doch schon die Poetik des Kerbholz-Inhabers F.C. Delius, das Festhalten der Augenblicke und auf der Seite des zweiten Inhabers, des Leser-Kritikers: das Abschätzen der Abweichungen? Jedenfalls hab ich freudig überrascht feststellen können beim Wiederlesen der Kerbholz-Gedichte, dass, diejenigen, die mir besonders gut gefielen wie Gedicht für Katzen , Replik auf Rom, Hymne für Deutschland oder wie Anna Schreifried „auf kleiner Flamme dieses Gedichts“ „gegrillt“ wird, dass sie auch heute für mich frisch wirken. Es ist mit der Lyrik von Delius’  nicht wie beim Altern der Neuen Musik, die Adorno einst kritisierte. Für mich, der ich seit langem mit ganz anderen literarischen Feldern beschäftigt bin, war die Lektüre Ihres Bandes Unsichtbare Blitze, in dem auch Kerbholz noch einmal ein anderes Gewicht bekommt, eine wunderbare Zeitreise mit nostalgischen Gefühlen, aber oft auch vom einen und anderen Lacher begleitet. Delius hat zwar hinter seine Gedichttitel im Verzeichnis die Jahreszahl gesetzt; aber dank seiner Ironie, seines Witzes und vor allem seiner Fähigkeit, auch sperrigste Themen in vollendeten Formen sprachlich zu subjektivieren und zu binden, macht die Gedichte fast immer auch zeitenthoben. Ich nenne nur das Chile-Gedicht Venceremos oder Hindernisse beim Einschlafen, dann Genossin Kassandra „Was heißt hier Seherin?/ In Troia sah sie schwarz…Sie schafft fürn Sozialismus, ja, er braucht auch sie…“ Ich nenne noch das Gedicht Selbstschutz, in dem Delius die sperrige Sprache des Selbstschutzgesetzes von 1965 in den Hölderlinschen Hymnenstil gewissermaßen umgießt.

Als F.C. Delius sind Sie mir damals in Wagenbachs fadengebundener Kerbholz-Broschur begegnet. Und als ich Ihnen vor noch nicht langer Zeit meine FAZ-Rezension vom Februar 1966 gab, sagten Sie: „Wir können uns in die Augen sehen.“ In diesem Sinne können wir ohne Furcht und Zittern die Kerbhölzer von damals  heute vergleichen.

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