Friedrich Christian Delius, FCD

Peter Weiss

Peter Weiss, Das Gespräch der drei Gehenden

Im Mai 1963 erschienen die ersten zwanzig Bände der später berühmten „edition suhrkamp“, darunter als Band 7 „Das Gespräch der drei Gehenden“ von Peter Weiss. Noch im gleichen Monat kaufte ich, zwanzigjähriger Germanistikstudent, der erst fünf Wochen zuvor aus der hessischen Provinz an die Freie Universität Berlin gekommen war, diesen schmalen Band für 3 DM.
Vor allem lockte der Name des Autors, den ich aus Rezensionen aus der „Zeit“ kannte. Seine Romane „Abschied von den Eltern“ und „Fluchtpunkt“ hatten Aufsehen erregt, aber ich, so jung, hatte sie natürlich noch nicht gelesen. „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ galt als avantgardistisch, das Buch hätte mich zuerst interessiert, aber es war nicht zugänglich, nur in einer bibliophilen, sehr teuren Ausgabe zu haben, vielleicht auch schon vergriffen. Der Name Peter Weiss tauchte überdies in den Berichten über die Gruppe 47 auf, ein Autor, der fast den Preis der Gruppe erhalten hätte, ein Name, der im Kommen war.
Zum Zweiten lockte der Titel, keine Story, keinen Inhalt, sondern eine offene Form versprechend, ein „Gespräch“. Das klang fast nach einer Versuchsanordnung, jedenfalls unkonventionell, darauf war ich neugierig.
Und zum Dritten der Taschenbuchpreis und die neue regenbogenfarbige, schicke, anspruchsvolle edition suhrkamp, über die allenthalben geschrieben und gesprochen wurde. Da wollte man dabeisein, da wollte man mitreden können.
Also gab es kein Zögern, „Das Gespräch der drei Gehenden“ musste sofort gekauft und gelesen werden.
„Es waren Männer die nur gingen gingen gingen. Sie waren groß, sie waren bärtig, sie trugen Ledermützen und lange Regenmäntel, sie nannten sich Abel, Babel und Cabel, und während sie gingen, sprachen sie miteinander. Sie gingen und sahen sich um und sahen was sich zeigte, und sie sprachen darüber und über anderes was sich früher gezeigt hatte. Wenn einer sprach schwiegen die beiden andern und hörten zu oder sahen sich um und hörten auf anderes, und wenn der eine zuende gesprochen hatte, sprach der zweite, dann der dritte, und die beiden andern hörten zu oder dachten anderes. …“

Ein perfekter Anfang für einen Roman oder eine Erzählung: Figuren werden gesetzt – und gleichzeitig wird ein Erzählraum geöffnet, für den es erst einmal keine Grenzen zu geben scheint, der ins Unendliche führen könnte.
Wenn ich heute, mehr als fünfzig Jahre später, das Buch zum zweiten Mal und gründlicher als damals lese und darüber nachdenke, was den literarischen Jüngling an diesem Text so fasziniert haben könnte, kommt eine Menge zusammen: die Frechheit der Form, die sich schon in den ersten Sätzen so locker und sicher entfaltet, gelassen und fast heiter einen eigenen Schwung, eine Melodie findet, der man sich gern anvertraut.
Die seltsamen Figuren gehen so selbstverständlich auf den Leser zu, dass der nicht zögert mitzugehen, zu folgen und zuzuhören. Leser sind gerne Spaziergänger, und erst recht, wenn die zudem noch Erzähler sind, die nicht nur gehen, schlendern, flanieren, sondern auch beobachten, erinnern, assoziieren, träumen berichten, beschreiben.
Die Bewegungen des Gehens und die gleichzeitigen, ähnlich getakteten Bewegungen des Assoziierens und Erzählens, 1963 ahnte ich noch nicht, dass dies einmal eine Dominante meines Schreibens werden sollte (etwa in „Bildnis der Mutter als junge Frau“). Heute, beim Wiederlesen, kam mir zum ersten Mal der Gedanke: es spricht viel dafür, dass das „Gespräch der drei Gehenden“ sich in mein Unterbewusstsein eingenistet und mich für diese formale Vorliebe konditoniert haben könnte.
Damals dachte ich nur: endlich mal kein Realismus. Sogar ein Anti-Realismus. „Es wird die Realität der Realität angezweifelt“, konstatierte ein etwas konsternierter Kritiker, dessen Rezension aus der „Welt“ vom 29.6.1963 in dem roten es-Bändchen aufbewahrt geblieben ist.
Noch besser fand ich: kein Handlungsgetue. Nur ein schlichtes Grundmotiv, das Gehen. Die Figuren sind stilisiert. Schon in ihrer Namensgebung lauert Witz. Die drei Figuren könnten eine Figur sein, die ein Selbstgespräch mit zwei inneren Partnern führt – oder auch nicht. Das spielt keine Rolle, solange Abel, Babel und Cabel eine Rolle spielen. „Da sie einander ähnlich waren wurden sie von den Passanten für Brüder gehalten, sie waren aber keine Brüder, waren nur Männer die gingen gingen gingen, nachdem sie einander zufällig begegnet waren …“
Die drei gehen durch eine große Stadt, und ihr Gang ist alles andere als erholsam und gemütlich. Sie gehen durch eine Stadt der Unfälle, der Schrecken, durch Landschaften der Träume, Albträume und Traumata, der Katastrophen und Absurditäten. Die drei Gehenden widersprechen, korrigieren und ergänzen sich. Sie sind einander Boten verschiedenen Unglücks, das mal komisch, mal bitter, fast immer grotesk gezeichnet wird. Manche ihrer Geschichten kreisen um einen Fährmann, der durch den Bau einer Brücke seine Beschäftigung verloren hat. Wir sind also in der Moderne, hinter zerbrochenen Kutschen drängeln die Automobile, es gibt Omnibusse, Straßenbahnen, Telegrafen und Fahrstühle, einen Hafen und Kaianlagen. Heute, mit Weiss‘ Biografie und als Tourist mit der schwedischen Hauptstadt ein wenig vertraut, wird man an ein Stockholm der vierziger Jahre denken und an die Bilder, die der Maler Peter Weiss in jener Zeit gemalt hat.

In diesem kleinen Buch finden Fachleute bestes Material zu ergründen, wo und wie Peter Weiss hier seine Schrecken, seine Albträume über die gerade erst beendete industrielle Ermordung von Millionen Juden verarbeitet oder besser: eingearbeitet hat. (Sein Auschwitz-Text war 1963 noch nicht geschrieben.) Das Trauma, seiner eigenen Ermordung dank des Exils entkommen und doch nicht wirklich davongekommen zu sein, ist auf fast jeder Seite zu spüren. Was könnten fleißige Interpreten allein aus diesen paar Zeilen herauslesen:
„Erst am Abend des dritten Tages war mir mein Name aus dem Gedächtnis verschwunden, ich zog meine Papiere heraus, las die verzeichneten Personalien, sie sagten mir nichts. Als ich müde war, legte ich mich hin, wo ich gerade war, in der Nähe des Wassers, auf eine glattgewalzte Straßenfläche, mit Bruchstellen, Speichelfladen, Pferdeäpfeln. Lag da und war wach und fühlte mich wohl, doch von weit her, sah mich von weit her hier liegen, rührte mich nicht. Ein paar Männer kamen und beugten sich über mich, ihre Hände waren von Öl geschwärzt, sie trugen dunkelblaue Overalls. (…) Als sie sagten, dass sie mich ins Wasser werfen wollten, regte ich mich nicht, ich wusste, sie wollten mich nur auf die Probe stellen. Sie hoben mich auf, trugen mich bis zur Kaikante, schwenkten mich ein paarmal hin und her, und ich ließ alles mit mir geschehn. Dann legten sie mich, ganz nah am Mauerrand, nieder, und gingen weg …“

Mich hat damals nur das interessiert, was mich heute immer noch am meisten an diesem Text fesselt, die Kühnheit der Form. Man kann zu Begriffen fliehen wie surrealistisch oder antirealistisch, man kann hier Kafka und Beckett ins Spiel bringen, aber all das trifft die Eigenart dieses Textes nicht.
Ich bewunderte und bewundere vor allem dies: den Mut, eine Erzählung zu schreiben, die keine ist.
Wohl wissend, dass die Kritiker sagen könnten, das seien alles nur Skizzen, Bruchstücke von Erzählungen, die um ein, zwei Motive kreisen, aber wahrscheinlich doch vom Autor erst nachträglich als Gesprächsstücke oder -fetzen in ein stilisiertes Gespräch von drei Gehenden eingefügt worden seien. Was für ein dünner Einfall, den paar Notizen und unfertigen Prosastückchen mit dem vorgeblichen Gespräch einen Rahmen geben zu wollen. Und selbst das Gehen sei ja kein ein ordentlich beschriebenes, variantenreiches Gehen, es bliebe buchstäblich stehen bei Formeln wie „sie gingen gingen gingen“.
Selbst wenn solche Kritiker hier und da Recht hätten, ihre Einwände tangieren die Qualität des Textes keinesfalls. Ein heutiger Leser, der Lyriker Ron Winkler, hat sie so zusammengefasst:
„Peter Weiss‘ Nicht-Erzählung ist eine Tour de Force, die sich einbrennt, ohne aufdringlich zu sein. Der interpunktionsarme Text ist extrem mitreißend; die somnambulen, ekstatischen Episoden bieten keine Atempausen. Eine Paradoxie folgt auf die andere. Die größte aber ist: Mit jedem Verstehen wird der Text noch viel undurchdringlicher. Weiss lässt nicht mehr los.“
Die größte Kühnheit ist für mich: Das vorgebliche Gespräch ist gar keines, es ist kein Dialog, kein Trialog, es sind vielmehr Monologe. Es wird nicht einmal deutlich, ob die jeweils zwei schweigenden Gehenden dem jeweils sprechenden Gehenden überhaupt zuhören.
Das macht die Modernität dieses frühen Peter Weiss aus, er zeigt, so ganz nebenbei, vielleicht sogar ohne Absicht, dass das Zeitalter der Dialoge und des Zuhörens vorbei ist. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts regiert der Monolog, auch wenn er „Gespräch“ genannt wird.

(die horen, heft 262, Jahrgang 2016)

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