Friedrich Christian Delius, FCD

Gottfried Keller und Sammy Drechsel

Gottfried Keller und Sammy Drechsel – Elf Freunde und ein grüner Heinrich

Erinnerungen verschwimmen, verschieben, beschönigen, aber unter all den als Kind gelesenen Büchern sind mir zwei mit klarster Sicherheit im Gedächtnis, die gegensätzlicher nicht sein können. Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“ und Sammy Drechsels „Elf Freunde müßt ihr sein“.
Dreizehn Jahre muss ich gewesen sein, als ich in einem trüben Winter drei oder vier Wochen lang krank lag und auf der Suche nach Lektüre ins Bücherregal des Vaters griff. Was den kleinen ängstlichen und unsicheren Jungen bewogen hat, sich überhaupt den alten Erwachsenenbüchern zu nähern, die von den früh gestorbenen Eltern des Vaters stammten, ist heute schwer zu beantworten. Romane gab es nicht viele darunter, neben einigen Titeln der gehobenen Trivialliteratur der Kaiserzeit wie Gustav Freytag standen da leicht angestaubt Wilhelm Raabe, Schiller, Goethe, Eichendorff und eben Keller.
Nicht einmal die Frakturbuchstaben schreckten ab, die Jugendstil-Einbände, die endlos vielen Seiten. Wahrscheinlich lockten in den Büchern der Erwachsenen tiefere Abenteuer, größere Liebesgeschichten, spannendere Konflikte. Vielleicht war es auch sportlicher Ehrgeiz, sich erst einmal durch solche Anfänge hindurchkämpfen zu müssen: „Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe, welches seinen Namen von den Alemannen erhalten hat, der zur Zeit der Landteilung seinen Spieß dort in die Erde steckte und einen Hof baute. Nachdem im Verlauf der Jahrhunderte das namengebende Geschlecht verschwunden, machte ein Lehenmann den Dorfnamen …“
Nach der Bewältigung solcher Absätze, Seiten und Kapitel konnte sich ein lesehungriger Knabe ein wenig erwachsen fühlen. Aber die Lektüre hätte ich wohl nicht bis zum Ende der vier Bände mit fast 1000 Seiten durchgehalten, wenn ich in der Geschichte des Einzelgängers und Künstlers Heinrich nicht etwas gefunden oder geahnt hätte, was meine Geschichte noch nicht war, aber vielleicht werden könnte: eine lockende Aussicht auf eine mir völlig unbekannte Zukunft. Mehr noch als die meisten Kinder fühlte ich mich elend, unterdrückt und nichtswürdig, ich litt an meiner Rolle als Schweiger und Stotterer, in „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ ist das beschrieben. Wie jedes Kind brauchte ich Träume und Tagträume, Bücher liefern das reichste Material dafür.
Heinrich wird als Junge mit blühender Phantasie gezeichnet, einer, der sich damit gegen die Wirklichkeit wehrt und seine Erfindungsgabe zur seiner Allzweckwaffe macht. Es muss eine Wohltat für mein Unterbewusstsein gewesen sein, Phantasie nicht als Flucht aus der Wirklichkeit verurteilt zu sehen, sondern als still gefeiertes Mittel für den produktiven Umgang mit der schwierigen, feindlichen, niemals richtig zu fassenden Wirklichkeit.
So bin ich von Keller, ohne es zu merken, verführt worden. Auf sanfteste subversive Weise wurde hier der Weg hin zum späteren Phantasieproduzenten geöffnet (was ich erst weitere dreizehn Jahre danach mehr erahnt als begriffen habe, als ich bei den Vorarbeiten für die Dissertation „Der Held und sein Wetter“ den „Grünen Heinrich“ noch einmal las).
Nur wenige Erinnerungen an einzelne Szenen des Buches sind geblieben, aber ich bin sicher: Der feine unbestechliche Blick des Gottfried Keller erklärte mir die Weite der Welt, die harten Kämpfe der Guten, das Schwanken der Illusionen, das Einstecken von Misserfolgen und den langen Weg zum Erfolg offenbar besser als Karl May. Ich erinnere mich, dass ich nach der Gottfried-Keller-Lektüre für Karl May verdorben war, der erschien mir plötzlich unspannend, platt und sprachlich simpel. Keiner meiner Freunde konnte das verstehen, ich konnte es auch nicht erklären, schon gar nicht mit dem „Grünen Heinrich“. Aber ich blieb dabei, mehr als zwei oder drei Karl-May-Romane mochte ich nicht lesen. Während ich den Keller verschwieg, warb ich mit missionarischem Eifer für Sammy Drechsel. Nach der Weltmeisterschaft 1954 erblühte die Begeisterung für den Fußball, wir Jungen des Dorfes Wehrda begannen in jeder freien Stunde den Bällen hinterher zu rennen. Ich gehörte nie zu den besten Spielern, aber ich hatte es nach langem Sehnen irgendwann geschafft, mit meinem spärlichen Spargeld einen Lederball zu kaufen, also lief kein Spiel ohne mich. Außerdem organisierten ein Freund und ich die Spiele gegen die Schüler der Nachbardörfer. Wir waren nicht besonders gut, nicht besonders schlecht, mir war das nicht genug. Unserer Mannschaft fehlte, so schien es dem eifernden Knaben, die wirkliche Leidenschaft, es fehlte das, was man später „die Einstellung“ und noch später „mental“ nannte.
Ich weiß nicht mehr, wie ich auf Sammy Drechsels „Elf Freunde müßt ihr sein“ aufmerksam wurde, wahrscheinlich durch einen Schulfreund des Gymnasiums Bad Hersfeld. Ich weiß nur, dass ich meine Eltern heftig und lange bearbeitet habe, bis ich endlich hoffen konnte, das Buch auf meinem Geburtstagstisch zu finden.
Drechsel erzählt die Geschichte von Berliner Schülern in den späteren dreißiger Jahren, die zuerst Bezirksmeister, dann Berliner Schulmeister werden. Sie lernen, trotz aller Widrigkeiten (Vorurteile gegen Fußball, Armut, schlechte Schulleistungen, Rivalitäten, Abwerbeversuche, Überheblichkeit usw.) zusammenzuhalten und sich nach oben zu kämpfen und in jeder Krise und vor jedem Siegesglück das Motto „Elf Freunde müßt ihr sein“ zu beherzigen. Von Nazis ist in dem Buch übrigens nicht die Rede, das fiel in den fünfziger Jahren nicht weiter auf, den Dreizehnjährigen oder Vierzehnjährigen sowieso nicht.
Ich las diesen Roman gleich zweimal und gab die Parole aus: Jeder in unserer Schülermannschaft muss dieses Buch lesen! Da ich sofort unsern besten Stürmer dafür gewann, machte dieser „Fußballroman für die Jugend“ die Runde als Pflichtlektüre. Auf dem Vorsatzblatt meines Exemplars steht in der ungelenken Schülerschrift: „Alle, die dies Buch gelesen haben “. Nach meinem Namen folgen, brav numeriert, noch sechzehn weitere. Einige lasen es zweimal, den Rekord hielt ich: insgesamt fünf mal gelesen.
Wer nicht überdurchschnittlich gut spielt, muss wenigstens Chefideologe werden. Aber mehr als zur mentalen Aufrüstung unserer Mannschaft hat Sammy Drechsel dazu beigetragen, meine sozialen Erfahrungen zu erweitern, gruppendynamische Prozesse besser zu begreifen und mich über Motivations-Management aufzuklären. Der Kellersche Einzelgänger, schön und gut, aber andere große Ziele erreicht man nur in der Gruppe. „Elf Freunde müsst ihr sein, wenn ihr Siege wollt erringen“, an dieses simple Motto glaubte ich insgeheim auch später, in der Gruppe 47, in der Studentenbewegung, bei der Verlagsarbeit, sogar im PEN und anderen intellektuellen Gruppierungen. Ich möchte auch heute noch daran glauben. Die Wirklichkeit sieht anders aus, aber das spricht nicht gegen die aus dem Reichtum der Lektüren gewachsenen Ideale.

(In: Uwe Naumann (Hg.), Verführung zum Lesen. Zweiundfünfzig Prominente über Bücher, die ihr Leben prägten. Reinbek (Rowohlt) 2003)

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