Friedrich Christian Delius, FCD

Walter Höllerer

Höllerer-Vorlesung, Lesung aus „Die Frau, für die ich den Computer erfand“
Technikmuseum Berlin 22.6.2010

Höllerer-Prolog

Zu dieser Zuse-Lesung und Höllerer-Vorlesung bin ich unter anderem auch als Höllerer-Schüler eingeladen worden. Was ist ein Höllerer-Schüler? Wie wird man Höllerer-Schüler?

Mit 17 Jahren las ich die ersten Höllerer-Gedichte. Mit 20 hörte ich zum ersten Mal das Höllerer-Lachen bei seinen Lesungen und Vorlesungen. Mit 21 beobachtete ich bei der Gruppe 47 zum ersten Mal den Kritiker Höllerer bei der Vorführung seines kritischen Bestecks. Mit 22 fragte mich Höllerer, ob ich bei ihm Doktorand werden wolle, dann saß ich fünf Jahre in seinem Oberseminar, das bei ihm Colloquium hieß, und hörte zu. Mit 27 schloss ich die Promotion „Der Held und sein Wetter“ bei ihm ab, und seit dieser Zeit, seit dem Jahr 1970 habe ich nichts dagegen, als Höllerer-Schüler bezeichnet zu werden.

Was haben wir, was habe ich von ihm zu lernen versucht? Zunächst die große Spannweite des literarischen Blicks von Jean Paul bis James Joyce. Die zeitgenössische Weltliteratur war genau so wichtig wie die Literatur der Romantik oder ein Text von Ingeborg Bachmann, da gab es keine Hierarchien oder Schubladen.

Literatur ist, so lernten wir, auch bei den größten Dichtern, Technik, also: Nicht der sogenannte Inhalt, die Handlung macht die literarische Kunst aus. Entscheidend ist die Form, die Wortwahl, die Machart, sind dramaturgische, stilististische, handwerkliche Techniken und Phantasien. So lernten wir: werten. An der FU lernten die Germanisten interpretieren, schön und gut, aber an der TU lernten sie mehr: wägen, prüfen, analysieren, werten.

Drittens: Nichts hasste Höllerer so wie Redewendungen, Phrasen, sprachliche Gedankenlosigkeiten, ideologische, also blickverengende Bequemlichkeiten. So erzog er uns, sogar in 68er Zeiten, zur Genauigkeit, zum Differenzieren, zur kritischen Distanz zu jedem gehörten, gelesenen oder selbstgeschriebenen Satz.

Viertens lernten wir bei ihm: Respekt vor den anderen Künsten, anderen Wissenschaften, Respekt vor technischen Leistungen. Als Studenten um 68 forderten: bitte mehr Marxismus, Herr Professor! konterte er: Sie haben völlig Recht, mehr Beschäftigung mit dem Marxismus wäre wichtig, aber bitte auch mehr Beschäftigung mit der Hirnforschung und mit der Thermodynamik!

Warum schreibt ein Höllerer-Schüler einen Zuse-Roman?

Vorweg: Ich war, entgegen anderslautenden Gerüchten, nie in einer seiner Schreibschulen für Prosa oder Dramatik, nur in einem Kurs für junge Kritiker mit vielleicht sechs Sitzungen. (Ich habe ihm auch nie Gedichte für die „Akzente“ angeboten, außer einmal als Schüler mit 17 oder 18 Jahren.)

Ich will nicht behaupten, dass Höllerer mich vor 40 Jahren zu diesem Roman angestiftet hat. Aber ich denke, er hat dem literarischen Jüngling doch geholfen, vor Technikern und Naturwissenschaftlern mehr Respekt zu empfinden. Ohne Respekt vor den Leistungen des Erfinders Zuse hätte dieser Roman nicht geschrieben werden können.

Warum ein Roman über Zuse?

Eine faszinierende Gestalt wie Zuse bietet so viel Material, dass man sich wundern muss, dass sie so lange unentdeckt geblieben ist bei Künstlern und Biografen. Meine Arbeit wurde erleichtert durch die biografischen Bezüge – wir sind einmal Nachbarn gewesen, von 1949 bis Mitte der fünfziger Jahre, er in Neukirchen, Kreis Hünfeld, ich in Wehrda, Kreis Hünfeld, keine fünf Kilometer lagen zwischen seiner Werkstatt, wo die Maschinen der Zukunft gebaut wurden, und meinem Sandkasten, meinem Elternhaus, meiner Schule, meinem Sportplatz. Ich habe das Buch in unserer gemeinsamen Landschaft lokalisiert – ermutigt bestimmt auch von Höllerer, den ich oft dafür bewundert habe, wie er Landschaften beschrieben und mit welcher Selbstverständlichkeit er sein Sulzbach-Rosenberg zu seinem literarischen Weltmittelpunkt gemacht hat.

Der dritte Punkt: Zuse deutet hin und wieder an, dass er sich als faustischen Menschen sieht. Als ich das begriff, war der literarische Schlüssel gefunden, musste ein literarisches Werk entstehen, inclusive Mephisto und Helena: Die Frau, für die ich den Computer erfand …

Viertens: Dies Buch ist keine Biografie. Eine Biografie über Zuse schreiben, das kann jeder, sage ich manchmal. Dies ist ein Roman. Und der Roman besteht, nach einer Definition von Imre Kertész, nicht aus Tatsachen, sondern aus dem, was er den Tatsachen hinzufügt. Also Emotionen, die Innenseiten eines Menschen, Geheimnisse, Ängste, Träume, Gedanken. Kurz: die subjektive Perspektive, so subjektiv wie möglich – so entsteht, wenn es denn gelingt und wenn der Stil, in Höllerers Sinn, die Musik macht, so entsteht die objektive Wahrheit eines Romans.

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