Friedrich Christian Delius, FCD

Nicolas Born

„Lies wenigstens Du es nicht als Schlüsselroman“ – nachträgliche Überlegungen zum Roman „Die erdabgewandte Seite der Geschichte“

Es ist keine leichtes Unterfangen, nach neunundzwanzig Jahren den Roman eines seit sechsundzwanzig Jahren toten Freundes wiederzulesen. Ein doppelter Rückblick, durchkreuzt von Erinnerungsfetzen. Ein Wittern alter, verwischter und verwehter Spuren, biografische Spuren plus Lesespuren. Dazwischen die Trauer über das Potential des Autors Born, das sich nur ansatzweise entfalten durfte. Die trotz aller Trends und literarischer Moden immer wieder bestätigte Gewissheit: er wäre der Beste unter den Autoren geworden, die heute zwischen sechzig und siebzig Jahre alt sind.

Nicolas Born schickte mir sein Buch mit der Widmung: „Lies wenigstens Du es nicht als Schlüsselroman“. Das war Anno 1976 die Crux der Rezeption, jedenfalls in den Berliner und Lüchow-Dannenberger Kreisen. Da herrschte einige Aufregung – allerdings nicht über das, was die Literaturkritik herausstellte, die angebliche Absage an die 68er, sondern über die wenig verblümte Art, in der Born, wie man verwundert oder gehässig unterstellte, sich und seine nächsten Freunde beschrieben hatte. In der männlichen Haupt- und Ichfigur meinte man Born selbst, in der weiblichen Hauptfigur eine ganz bestimmte Frau, die viele kannten, in dem Freund des Ich-Erzählers einen bestimmten Freund Borns zu sehen, den viele kannten, usw. Diese Figuren bewegen sich auf mehr oder minder bekannten Berliner Schauplätzen, und der Ich-Erzähler reist, wie Born, des öfteren ins Ruhrgebiet, woher er stammt, wie Born.

Der Rumor der Indiskretion umgab das Buch und trübte das Verständnis für seine Radikalität. Selbst wenn man es nicht als „Schlüsselroman“ las – es war ja offensichtlich, dass  Born weit entfernt von solchen primitiven Kategorien etwas ganz anderes anstrebte – es ist auch mir schwergefallen, trotz der inständigen Bitte des Autors hinter jenen Figuren nicht die möglicherweise realen Vorbilder winken zu sehen.

Heute, mit der Erinnerung an die etwas dunkel gebliebene „Erdabgewandte Seite der Geschichte“, hatte ich erwartet, den Roman mit distanzierterem und objektiverem Blick als 1976 lesen und gelassener würdigen zu können. Ein Irrtum, ein produktiver. Das Buch bleibt irritierend und verstörend. Genau das macht seine Qualität aus.

Erst heute, beim Wiederlesen, meine ich begriffen zu haben, warum Nicolas Born so schrieb wie er schrieb. Und warum er diese Missverständisse in Kauf nahm und nehmen musste. Es war eine gezielte Provokation, die biografischen Spuren nicht oder nur flüchtig zu verwischen. Er brauchte das, um Distanz zu schaffen. Um mit dem Freundschafts- und Genossen-Getue Schluss zu machen. Mit der Einfühlerei und den gefälligen Einladungen zur Identifikation. In der Lyrik hatte er sich mit „Das Auge des Entdeckers“ (1972) befreit und selbständig gemacht. Nun war er auf der Suche nach der künstlerischen Basis seiner Prosa, nach den Grenzen des Schreibens. Und dafür musste sich Born in der „Erdabgewandten Seite der Geschichte“ vor allem in einer Kunst trainieren, der Kunst der Rücksichtslosigkeit.

Rücksichtslos zuerst gegen die Hauptfigur. „Der Held ist bei mir das Medium für alle anderen Personen. Innerlichkeit gibt es bei mir nicht, nur Narzißmus, der sich in der Selbstbetrachtung erschöpft“, sagte Born einmal. Es spielt keine Rolle, wie viel oder wie wenig Selbstporträt man in dem Ich-Erzähler sehen mag, entscheidend ist, wie hier ein Ich, eine Seele, eine schmerzgepeinigtes Subjekt analysiert und seziert wird:

„Ich hätte mich gern selbst für den wenigstens einzigen gewissen Gegenstand gehalten, hielt mich aber wie alle anderen für einen ungewissen. Ich hätte gern eine Gegend besamt und lauter kleine vergeßliche Wesen gezeugt. Aber zu lange schon war ich meiner Zeit böse gewesen, auf die freundlichste Weise, und darüber ein Krüppel geworden. Dabei hatte ich mich dauernd für normal halten lassen, für vernünftig, ja hatte mich halten lassen, war gehalten worden wie ein Normaler, Vernünftiger. Meine Organe waren schon verkrüppelt, mein hoffnungsloses Herz, meine hoffnungslose Leber, meine Ohren, die ich schon nicht mehr spitzte, meine Nase, deren Flügel schon gar nicht mehr bebten bei einem fremden, beizenden Geruch. Meine Augen, hoffnungslos bei den Anblicken, die wie Halden meiner ehemaligen, von mir abgeschnittenen Körperteile erschienen.“ (124)

((Anmerkung: Da der Roman vergriffen ist, will ich meine Überlegungen mit einigen längeren Zitaten belegen.))

Das Ich, das keine Gewissheiten mehr kennt und erst recht in der Liebe nicht findet und nicht sucht, wird im Zustand der Paralyse beschrieben. Der Freund Lasski liest einmal aus den Schriften des Novalis vor: „Im höchsten Schmerz tritt zuweilen eine Paralysis der Empfindsamkeit ein. Die Seele zersetzt sich. Daher der tödliche Frost, die freie Denkkraft, der schmetternde unaufhörliche Witz dieser Art von Verzweiflung. Keine Neigung ist mehr vorhanden; der Mensch steht wie eine verderbliche Macht allein. Unverbunden mit der übrigen Welt verzehrt er sich allmählich selbst.“ (124)

Das Unerhörte des Romans liegt darin, dass Born diese „Zersetzung der Seele“ ohne jedes existentialistisches Pathos und ohne Koketterien à la Handke vorführt. Er will weg von den Fertigteilen des Denkens, von den Klischees des Empfindens, weg von jeder Art Gewissheit, Hoffnung und Meinung sowieso. Er will aufräumen mit dem Gerümpel der Illusionen, rücksichtlos. Das ist seine Arbeit, seine Schwerstarbeit. Er weiß nicht, ob sie je belohnt wird. Darauf kommt es nicht an. Und doch klingt durch alle Beschreibungen der Verzweiflung der Wunsch, dass es nach diesem Aufräumen Anfänge, nach der notwendigen Rücksichtslosigkeit eine Beruhigung, eine festere Basis geben werde – vielleicht erst in einem nächsten Roman.

Die Rücksichtslosigkeit gegenüber der Ich-Figur wird gegenüber der Geliebten sogar noch gesteigert. Die Liebesgeschichte ist von Anfang an als Zerfall einer Liebesgeschichte erzählt. „Es war ein Verhältnis. Den Vorsatz, es zu beenden, gab ich nie auf, hielt ihn aber auch ängstlich vor mir selber versteckt“,  heißt es schon auf der vierten Seite, und auf der sechsten: „Meine Wut, die nicht ausreichte, mich auf den Beinen zu halten, richtete ich immer unverhohlener gegen Maria.“  Mit solchen Sätzen beginnt die Geschichte, und am Ende sieht der Erzähler die Freundin mit einem anderen Mann davongehen, mit größter Erleichterung. Der Wunsch, diese Liebe gelingen, in ein wenig Glück münden zu lassen, wird nicht einmal artikuliert – oder als Illusion abgetan. Und so wird die Rücksichtslosigkeit bis in jede Szene der Näherung oder des Distanzierens durchgehalten.

„Als ich zu Maria gesagt hatte, ich könne nicht mit ihr leben, wie sehr es mir auch gefiele, immer zu ihr zurückzukommen, was sie nicht hemmen möge, andere Beziehungen weiterzuführen oder neue aufzunehmen, war das ein Anschlag auf ihr Leben. Sie hatte sich geliebt als das Bild, das ich von ihr hatte. ( … ) Weil ich meinte, von ihr niemals mehr loskommen zu können, arbeitete ich auf einen Verrat hin, auf Trennung, Verrat meinte ich aber. Das dauerte Jahre, und inzwischen wuchsen zwischen uns die Mißverständnisse und das Ausmaß der Quälereien, mit denen wir uns aufeinander aufmerksam machten. Sie ärgerte mich mit ihrem Glauben an vernünftigen Fortschritt und fortschrittliche Vernunft. Und ich ärgerte sie damit, daß ich glaubte, allein zu sein. Ich wollte ja allein sein; unerträglich war mir das undeutliche Gefühl, mich in einer Gemeinschaft kennenzulernen und mich gleichmäßig auf die Gemeinschaft zu verteilen. Ich suchte immer nach einem einzelnen, den ich verraten und enttäuschen und demütigen könnte. Mit Maria konnte ich mir nur ein langes Röcheln vorstellen auf die Dauer.“ (179)

Mit ähnlich rücksichtsloser Schärfe wird der Blick auf Freunde und Bekannte, auf Freundinnen von Maria und Partygäste gerichtet, vor allem auf den Freund Lasski. Mal wird er geschätzt, mal verachtet, mal gebraucht, mal ignoriert. Selbst als Lasski stirbt, gegen Ende, darf er nicht mit Milde rechnen: „Ich hätte nie daran gedacht, daß eine so eitle Selbstsucht und so eine zynische Instanz plötzlich ausfallen könnte.“ (206)

Keine Frage, auch das Milieu, dem der Erzähler entflohen ist, und die dazugehörige ehemalige Ehefrau verdienen keinerlei Rücksicht: „Da gab es kein anderes Leben mehr als das auf dem Tisch, keine andere Wahrheit als die man mit ja beantworten konnte. Da galt nichts außer dem, was galt, da pochte man selbstgewiß auf den Moment, auf dieses Machtwort, auf die gute Nacht, auf die neue Frisur. Das ganze Innen war da die Wohnung, das ganze Außen Kaufhaus und Arbeitsplatz. Wo keine Gefahr mehr gesehen wurde, da war auch keine mehr. So konnte man leicht vergessen, daß unter den eigenen Mühen, Leben vorzutäuschen, unter den eigenen Reproduktion von Lebensäußerungen noch eine Natur lag, versteckt und zum Schweigen gebracht.“ (128)

Der folgende Satz lautet: „Da sollte Ursel nicht hingehören.“ Ursel, die halbwüchsige Tochter, die bei der Mutter wohnt, die bereits einen neuen Partner hat, ist die einzige Figur des Romans, die vom Erzähler akzeptiert und geliebt wird, so wie sie ist. Ihr gegenüber fühlt er einen Auftrag, eine Verantwortung: sie zu retten vor jenem „falschen Leben“, sie in Sicherheit zu bringen. Sie ist die einzig Gerechte, wenn man so will, an der die Kunst der Rücksichtslosigkeit nicht erprobt wird. Dafür analysiert der Erzähler umso strenger seine Unbeholfenheit, der ihm entwachsenden Tochter zu zeigen, was und wie er fühlt. Er verzweifelt an seiner Unfähigkeit, sie wirklich zu retten. Und wird nie die Ahnung von der Vergeblichkeit seiner Anstrengungen los, trotz aller Briefe, Telefonate, Besuche und gemeinsamen Ferien: „Ich fürchtete, sie würde sich in freier Wahl immer deutlicher dafür entscheiden, wie Erika zu sein, also später ihr Leben zu einer faden, auf das leichteste durchschaubaren Verhaltenskomödie machen, in der nichts erstaunlich ist, sondern alles unweigerlich richtig.“ (128)

Was ich hier vereinfacht Rücksichtslosigkeit nenne, richtete sich mit besonderer Verve gegen die linke Gewissheitskultur der Studentenbewegung. Auch wenn es nach Schneiders „Lenz“, nach Handkes Attacken auf die SDS-Sprache und Strucks „Klassenliebe“ und vielen anderen literarischen Texte der frühen und mittleren siebziger Jahre nicht mehr originell war, den wachsenden Dogmatismus der politisierten Studenten anzugreifen, Born traf mit seinen knappen Abfertigungen den Kern der Missverständnisse und die zunehmende Distanz zwischen denen, die Bescheid zu wissen meinten, und denen, die eher den Zweifel und die Kunst liebten und brauchten.

„Viele unserer Bekannten wurden schnell immer politischer, das hieß erst einmal, daß sie prinzipiell wurden und gewisse Verständigungen abkapselten gegen jeden Zweifel, andererseits, daß sie immer weniger gelten ließen, auch immer weniger Menschen gelten ließen und nach und nach ihre Eigenschaften aufgaben. Die politischen Gruppen griffen auch nach Lasski und mir. Ich fühlte mich manchmal in der Umarmung in den Tropen verseuchter Missionare. Je abtrünniger ich roch, je verräterischer ich blinzelte, umzu begehrlicher wurde das Interesse an mir.“ (46)

Solche Sätze waren es, die Born in der Literaturkritik viel Beifall brachten, obwohl sie 1976 keineswegs so sensationell und so neu waren, wie es den Feuilletonisten schien. Sie trafen, gerade wegen ihres nüchtern konstatierenden, unempörten Tons. (Ich muss gestehen, dass ich mich damals vom ersten Teil des ersten zitierten Satzes mit-gemeint fühlte, obwohl ich nie zu irgendeiner Studentengruppe gehörte, sondern nur eine Zeitlang, vielleicht zwei, drei Jahre, von der Literatur mehr Nützlichkeit forderte als von ihr zu holen ist – wobei wir freilich in ziemlicher Offenheit und mit allen Zweifeln über das Für und Wider solcher Forderungen diskutierten.)

Im Verzicht auf moralische Argumente beim Beschreiben der Ereignisse in den hochmoralisch aufgeladenen Zeiten der endsechziger und siebziger Jahre, in der Absage an die gängige Rhetorik der Empörung liegt für mich das produktivste politische Skandalon des Romans. Das wird deutlich in der Beschreibung der polizeilichen Prügelei vor der Berliner Oper während des Besuchs des Schah von Persien, kurz vor der Erschießung Benno Ohnesorgs. Der Erzähler steht mittendrin:

„Ich konnte mich aber nicht wehren gegen ein Gefühl von künstlicher Stimmung, das eine Art Rückstau von Informationen war, nicht von Erfahrungen am eigenen Leib. Einige wurden schon verprügelt und hingen am Boden, ein Paar Stiefel umarmend, wenn sie nämlich herausgequetscht worden waren aus der Menge. Ich versuche ein paarmal, mir einzelne Gesichter einzuprägen; das konnte ich nicht, weil sie sofort von anderen Gesichtern wie mit Lappen ausgewischt wurden. Ein Entsetzen vor blinkenden Knöpfen, vor Knüppelarmen, die Angst, an den Rand, an die Barrieren gedrückt zu werden, Angst, die auf einmal ganz ohne Meinung auftauchte und schon wieder weg war. Die Gesichter wurden aufgehoben und wieder verborgen hinter anderen Gesichtern.“ (48f)

Oder: „Ich sah einen Bekannten, der an mir vorbeigeschoben wurde, ein vollendet lächerlicher Händedruck wie auf gegenläufigen Rolltreppen. An ein Gefühl der Befriedigung kann ich mich erinnern, als ich sah, wie eine blutende Stirn behandelt wurde. Der Verletzte hielt die Mütze hoch in die Luft. Ich sah auch ein Mädchen lange von der Seite an und muß überlegt haben, ob ich sie ansprechen soll. (…) Ich fand dieses Gewoge schon komisch, und es fiel mir schwer, wirkliche Interessen dahinter zu vermuten. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß es bezahlte Schläge waren und daß ein wirklicher Schuß fallen sollte, tödlich, dafür war das alles immer noch viel zu lustig. Es war schon Ernst, aber doch kein wirklicher. Saß denn der Herrscher jetzt tatsächlich dort drüben in der Musik? War ich vielleicht wirklich politisch geworden, bekehrt? Vielleicht war es eine Bekehrung, nach der mein Körper allerdings wieder gewohnten Beschäftigungen nachging. Ich glaube, ich bin überhaupt nicht verändert worden.“ (50 f)

Geschult am nouveau roman, richtet Born den Blick beharrlich auf die Details und verweigert die Summierung der Eindrücke hin zum Allgemeinen, zum Großenganzen, zur moralischen Aufladung. Im Gegenteil, er lässt beharrlich die Luft heraus aus der zum Klischee gewordenen Entrüstung über die Ereignisse des 2. Juni 1967. Er zeigt, was hinter den Schlagzeilen und hinter den Schlagfotos sich ereignet – und rückt, was wie eine Frechheit anmutet, das Subjekt, das kühl beobachtende Individuum in die Mitte. Er entfaltet die Gefühle vor und nach der Empörung. Und er führt die absurde Seite dieser Zusammenstöße vor.

Borns literarisch analysierender Blick zielt nicht nur gegen die linke Erstarrung, sondern mit gleicher oder noch größerer polemischer Schärfe gegen alles, was Staat und Gesellschaft heißt und auf Vernichtung des Individuellen aus ist:

„Der Staat erließ ja unentwegt Gesetze zu seinem Schutz, so daß wir uns bald in seinem Schutz nicht mehr bewegen können. Immer mehr Leute bewegten sich jetzt schon nicht mehr. Das Recht hatte sich in den Staat eingepuppt wie ein Vorrat vom Besten, an dem man sich nicht vergreifen konnte, ohne ein Rechtsbrecher zu sein.“ (188)

Oder: „Nicht vor dem Hintergrund einer ruchlosen weltgeschichtlichen Spirale, deren Bewegungen immer enger und unentrinnbarer wurden, spielte sich unsere Geschichte ab, vielmehr vollzog sich das gesellschaftliche Leben, dieser atemlose Stillstand in der Bewegung, vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Darin lag für uns der Grund für einen geheimen Stolz, die letzte Möglichkeit anarchistischer Selbständigkeit und das Recht auf einen eigenen Untergang. Der Staat hatte uns nichts zu bieten als die Regie der äußeren Auflösung. Gleichgesinnte hatten uns auch nichts zu bieten; wir wollten, glaube ich, von Gleichgesinnten nicht einmal eine Ahnung haben. Die Detonationen öffentlicher Energien, der Überschall der Sprechsignale, die industrielle Vernichtung des Lebens und die industrielle Herstellung einheitlicher Lebensgefühle, die Verwandlung eines jeden Wesens und Gegenstandes in seine eigene Reproduktion, das alles waren Einzelheiten unserer Geschichte. Wenn ich die Zeitung las, wußte ich nicht mehr, ob mir da mein höchst eigener Wahn klargemacht wurde oder ob ich nur am großen normalen Wahn noch nicht gehörig beteiligt war.“ (203 f)

Die prophetische Weisheit solcher Passagen müsste an anderer Stelle gewürdigt werden. Mich interessiert eher, wie Born die oben zitierten Novalis-Sätze mit der Weltpolitik verbindet. Sogar hier offenbart sich das unentwegte Ringen des Autors mit der Frage, ob und unter welchen Bedingungen das sich auflösende Subjekt vor der sich auflösenden, in den Wahn taumelnden Gesellschaft sich noch behaupten kann. Und er findet die Antwort: im „geheimen Stolz“, Subjekt zu sein. Also im Schreiben. „Beim Schreiben der Geschichte versuchte ich der Person ähnlich zu werden, als die ich mich beschrieb.“ (146)

Sie wird trainiert, sagte ich, die Kunst der Rücksichtslosigkeit. Manchmal scheint es, als folge Born, der Menschenfreund, einem Übungsprogramm für Abgrenzung und Abwertung. Der Erzähler richtet die differenzierteste Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, gegen die Geliebte, gegen den Freund und gegen alle, außer der Tochter, gegen die kleinbürgerliche und die linke Gewissheitskultur und gegen Staat und Gesellschaft sowieso.

Man merkt, wie schwer es dem Autor fällt, dabei allen seinen Ernst zusammenzunehmen. Born, dem es an Humor nie mangelte (der zuletzt zitierte Satz könnte ihm selbst ein lautes Lachen beim Schreiben entlockt haben), will sich nicht mit Scherz, Satire oder gar Ironie über die Paralysen hinwegschummeln.

Nach der Radikalkur mit diesem Roman gewinnt Nicolas Born Kraft für ein neues souveränes Schreiben, auch für ein neues politisches Schreiben. „Die Fälschung“ und die späten Gedichte zeigen das.

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