Friedrich Christian Delius, FCD

Dante

Der frechste Dichter aller Zeiten

Wer in die Hölle kommt und wer ins Paradies, entscheidet dieser Poet: Vor 750 Jahren wurde der Weltenretter Dante geboren.

Ungelesen, angelesen, achtel- oder halbgelesen, wahrscheinlich gibt es kein Buch in den Regalen der Literaturfreunde in aller Welt, das so selten komplett gelesen wurde wie Dantes „Göttliche Komödie“. Auch ich brauchte mehrere Anläufe. Vier Jahrzehnte lang wollte der goldverzierte 100. Band der Fischer Bücherei, den mein Vater, hessischer Landpfarrer und Italienfreund, in den fünfziger Jahren gekauft und kaum gelesen hatte, von mir aufgeschlagen und gewürdigt werden. Hin und wieder fasste ich Mut, jedesmal auf den ersten Seiten an der Übersetzung scheiternd. Fischer hatte sich für Wilhelm G. Hertz, und der hatte sich dafür entschieden, die italienische Strophenform der gereimten Terzine umzudeutschen. Doch der ans Komische grenzende Reimzwang und das idealisierende, fromm aufgepumpte Vokabular waren alles andere als verlockend.
2001, in Rom, empfahl mir eine deutsche Buchhändlerin die Übertragung von August Vezin bei Herder, auch in gereimten Terzinen, aber etwas frischer, klarer, geschmeidiger. Außerdem waren hier jedem Gesang zwei, drei Seiten Erläuterungen vorangestellt, nicht zu viel, nicht zu wenig. So stapfte ich Schritt für Schritt, mit mäßigem Vergnügen durch die halbe Hölle und gab dann auf. Das Italienisch zu schwierig, das Deutsch zu verkünstelt.
Es musste erst Kurt Flasch 2011 mit den zwei großformatigen Bänden, mit seiner präzisen Prosafassung und der „Einladung, Dante zu lesen“ kommen, damit ich die 14233 Verse noch einmal von vorn und dann bis zum Ende las.

Aber warum? Die Lektüre bleibt ja strapaziös. Bei aller Begeisterung für poetische Raffinesse, bei aller Bewunderung der Phantasiekraft, bei aller Neugier auf den politischen Dante, es gibt genügend öde Passagen, die uns heutige Leser resignieren lassen. Wir verzweifeln an unserer Unbildung, wir ermüden auf den kosmologischen, philosophischen, mystisch-theologischen Etappen am Läuterungsberg und im Paradies. Warum ich durchhielt, kann ich nur erklären, wenn ich ein Betriebsgeheimnis preisgebe.
Jeden Morgen vor der Arbeit an einem Prosatext pflege ich mich mit einem Klassiker zu dopen. Zwei, drei Seiten inhalieren, wenige Minuten nur, es kann „Dichtung und Wahrheit“, ein Jean Paul-Roman oder Joseph Roth sein, auch die neuen Übersetzungen der „Kartause von Parma“ oder „Tristram Shandy“; derzeit ist es Jaroslav Haseks „Die Abenteuer des guten Soldaten Svejk im Weltkrieg“. Mit dem Echo solcher Meisterprosa im Ohr wird es leichter, die Kriterien scharf zu halten und die eigene Sprachmelodie zu finden.
Flaschs Dante half mir 2012 bei der Erzählung „Die linke Hand des Papstes“. Ich arbeitete in Rom, jonglierend mit meinen Erfahrungen, Beobachtungen und Entdeckungen aus zwölf und mehr Rom-Jahren. Da tat es gut, jeden Morgen vor der Arbeit einen Gesang, also rund 140 fein rhythmisierte Zeilen aus der „Göttlichen Komödie“ zu lesen, teils im Original, teils im Flasch, teils im Vezin, mit möglichst wenig Kommentar. Schnell war mir klar, dass Dante mein Verbündeter war. Gegen das, was er seinen Zeitgenossen entgegengeschleudert hatte, war das, was ich meinen romliebenden Helden romkritisch, berlusconikritisch, deutschkritisch und kirchenkritisch aussprechen ließ, äußerst gemäßigt und milde. Ich achtete darauf, nur solche Italienkritik einzuflechten, die Italiener geäußert hatten, so höflich wäre Dante nie gewesen. Gewiss, Rom ist nicht die Hölle. Aber seine höllischen Seiten, Schlünde und Fallgruben werden gern übersehen. Die Kenner wissen: Ein südlicher Vorort, wo nie ein Tourist hinkommt, heißt Infernetto, Höllchen. Nicht weit davon wurde Pasolini ermordet.
Ein spezielles Vergnügen also, im skandalsatten und korrupten Rom den Moralisten Dante täglich zehn Minuten bei seinen Gängen und Visionen zu begleiten, bevor ich daran ging, von den Konflikten eines Fremdenführers zu erzählen, vom Geheimnis der linken Hand des Papstes und vom Coup des Augustinus, die Erbsünde zu erfinden und diese Idee dank Bestechung mit achtzig arabischen Zuchthengsten bei Kaiser und Papst durchzupauken. Vergil und Dante mit größtmöglichem Abstand und Respekt in heiterer Bescheidenheit zu folgen, das kann auch im 21. Jahrhundert kein Irrweg sein.

Endlich hatte ich begriffen: Hier schreibt der frechste Dichter aller Zeiten. Und das nicht nur als Gesellschaftskritiker, der seine politischen Gegner und die Schufte seiner Zeit, Päpste und Kaiser inklusive, stracks in die Hölle befördert. Seine größte Frechheit ist keine politische, sondern eine theologische.
Der Dichter schwingt sich zum Weltenrichter auf. Mit der Fiktion seiner Wanderung durch Inferno, Purgatorio und Paradiso nimmt er, natürlich in frömmster Absicht, Gott die Arbeit des millionen- oder milliardenfachen Menschensortierens ab und entthront ihn, zumindest vorläufig, auch wenn er ihm inbrünstig unterworfen bleibt. Das ist der erheiterndste Widerspruch der Commedia, die zu anderen Zeiten als Ketzerei verfolgt wurde. Welche Urteile über welche Toten am Jüngsten Tag von Gott oder Jesus oder Erzengeln oder wem auch immer gesprochen werden, wusste um 1300 kein Mensch und weiß bis heute niemand. Aber hier stellt sich ein Dichter hin und arbeitet schon mal vor.
Er bestimmt, in aller Demut und in aller Schärfe, wer in den Himmel, wer in die Hölle kommt. Durch das beflissene Beschreiben dessen, was er bei seiner erfundenen Wanderung gesehen haben will, und durch den Zauber einer bislang ungehörten poetischen Sprache erscheint die Kühnheit der Fiktion als Faktum höchster Selbstverständlichkeit, da die meisten Leser ja mehr an die Fiktion von Himmel und Hölle als an die Kraft literarischer Fiktion glauben. Das Wunder der Literatur, hier wird es Ereignis. Die anschaulich ausgemalten Tiefen der Hölle wirken wie der Gipfel der Wahrheit und sind doch vor allem ein Gipfel der Poesie – und ein Gipfel der Gotteslästerung. Das ungeheure Volumen der Danteschen Phantasien und die bis dato unbekannte detailfreudige Darstellung des Jenseits wirken so überwältigend, ja einschüchternd, dass die Frechheit, sich an Gottes Stelle zu setzen, von vielen gar nicht mehr bemerkt wird. Alle folgenden Gotteslästerungen, die die Kirchen Künstlern vorgeworfen haben, sind nichts gegen diese: Der Dichter wird zum Richter, jedenfalls solange das Weltgericht nicht stattfindet und immer wieder verschoben werden muss.
Um diese Anmaßung halbwegs abzusichern, holt sich der kluge Dante Beistand, erfindet sich Partnerfiguren, denen er zu folgen vorgibt. Mit Vergil zieht er die Tradition und die höchste künstlerische Autorität auf seine Seite. Mit der angebeteten, ja geheiligten Beatrice erschließt er das unerschöpfliche Thema der irdischen und der göttlichen Liebe; mit Beatrice sind ihm wohlwollende weibliche Kritik und die Frauenherzen sicher. Auf diese Weise geschützt und gerüstet kann er zu singen beginnen „Nel mezzo del cammin di nostra vita/ mi ritrovai per una selva oscura …“
Im dunklen Wald und träumend, müde auf der Hälfte seines Lebenswegs, so unschuldig und demütig gibt sich der Dichter, dass man seine Frechheit zu sagen: Ich zeig euch, wer in der Hölle brät, wer im Himmel wohnt, fast nicht wahrnimmmt. Zumal der Jenseitswanderer schon im ersten Gesang auf Vergil trifft und behaupten kann, nur ein hilfloser, orientierungsloser, törichter Mann zu sein, der seinem Vorbild, Führer und Erklärer folgt und mit der Rolle des Berichterstatters zufriedengibt: „Er ging voran, ich folgte seinen Schritten.“

Dantes Frechheit wurde wohl auch deshalb selten als solche empfunden, weil er vom allgemeinen eschatologischen Kuddelmuddel profitierte. Die christlichen Jenseitsvorstellungen, aus griechischen, ägyptischen Quellen gespeist und gegen die hebräischen gerichtet, waren ursprünglich leicht zu begreifen: Hölle für die Nichtgläubigen, Himmel für die Getauften. Das hätte keine Commedia ergeben. Da das erhoffte Weltende samt Weltgericht sich nicht einstellte und es immer mehr christliche Sünder und Fraktionen gab, mussten die Kirchenväter die Kriterien für die Zukunft der Seelen immer weiter verschärfen, bis der Großteil der Menschen für die Zeit nach dem Tod mehr zu fürchten als zu hoffen hatte. Augustinus kam mit der Erbsünde, entwickelte daraus seine gnadenlose Gnadenlehre und füllte die Höllen.
Gregor der Große versetzte schließlich Gott und Jesus als Weltenrichter in den einstweiligen Ruhestand, indem er den Seelen die Phase der „ewigen Ruhe“ vor dem Weltgericht nahm und sie direkt nach dem Tod ins Jenseits schickte. Da solche Schnell-Selektion in Höllen- oder Himmelsbewohner, von wem auch immer entschieden, leicht zu Fehlurteilen führt, erdichtete der kluge Gregor das Fegefeuer als Zwischenstation. Er ließ offen, ob irgendwann noch ein ordentliches Gottesgericht tagen werde. „Die Höllentheologie endete im gedanklichen Fiasko“ (Flasch). Aber der Zweck, die Angst vor dem Tod zu schüren und die Christenheit mit sofortigen Höllenqualen zu schrecken und zu bannen, war erfüllt. Es fehlte nur noch das Positive, das Gregor mit seiner Erfindung der Vorbildfigur des heiligen Benedikt, wie Johannes Fried nachweisen konnte, ebenfalls geliefert und aufs trefflichste ausgeschmückt hat.
Gerade wegen des heillosen Durcheinanders in der Jenseitstheologie konnte Dante sich das erlauben, was er sich erlaubt hat. Er setzt seine Vorstellungen und Maßstäbe selbstbewusst in die Welt und könnte sich im Verteidigungsfall auf den bedeutendsten theologischen Erfinder vor ihm, auf Gregor den Großen berufen.

Noch augenfälliger ist Dantes Frechheit gegenüber seinen Zeitgenossen. Als ein Autor, der sich vor mehreren deutschen Gerichten bis hin zum BGH dafür verteidigen musste, die Namen Siemens und Horten in einer Satire beziehungsweise in einer Ballade verwendet und damit gewissermaßen entheiligt zu haben, lese ich mit Staunen, welche Freiheiten sich ein Dichter vor rund siebenhundert Jahren erlaubt. Bei einer Klage von Bonifaz VIII. vor dem Bundesverfassungsgericht hätte Dante wahrscheinlich das Nachsehen, wenn das Gründgens-“Mephisto“-Urteil der Maßstab bleibt, trotz aller Freiheit der Kunst und Bonifaz‘ Schurkereien.
Er lässt nicht nur seine Gegner in Florenz, die ihn ins Exil jagten, mit Wut und Wonnen in der Hölle schmoren. Richtig böse wird er bei einer Reihe von Päpsten und weltlichen Herrschern, die er der Leserschaft als ewig Verdammte vorführt, jeden Einzelfall knapp und scharf begründend. Sechs Päpste haben im Lauf von Dantes Leben amtiert, fünf verurteilt er zur Hölle, einen zur Vorhölle. Nicht nur das, er denkt sich für die korrupten, mehr an Macht und Mammon als an christlicher Tugend interessierten Päpste die absurdesten Qualen aus. Köpflings stecken sie in Brunnenlöchern, weil sie die göttliche Ordnung umgekehrt haben, in Flaschs Version: „Aus der Öffnung jedes dieser Löcher ragten Füße und Beine eines Sünders hervor, bis zum Rumpf; der Rest steckte drinnen. Bei allen brannten beide Sohlen; deshalb zuckten die Kniegelenke so heftig, dass sie Gurte und Stricke zerfetzt hätten. Wie Flammen auf eingeölten Dingen sich nur an der Außenseite ausbreiten, so brannte es dort von den Fersen bis zu den Zehenspitzen“ (Inferno, 19. Gesang).
Diese Bestrafung reicht nicht, jeder gestorbene Papst wird direkt in die Hölle befördert und auf seinen Vorgänger ins gleiche Loch gestülpt. Und Dante setzt mit einer Beschimpfung nach, explizit an Nikolaus III., Bonifaz VIII. und Clemens V. gerichtet: „Eure Habgier korrumpiert die ganze Welt; sie erniedrigt die Guten und erhöht die Schlechten. Hirten wie euch sah der Evangelist, als ihm die Hure erschien, die über den Wassern thront … Ihr habt Gold und Silber zu eurem Gott gemacht. Was unterscheidet euch noch von den Götzendienern des Goldenen Kalbs?“
Selbst auf dem Läuterungsberg und im Paradies hören Fragen, Zweifel, Kritik und Zorn nicht auf. Dante ist frech genug, sich sogar dort, mitten im Paradies, von Petrus persönlich zu seiner Kirchenkritik auffordern zu lassen.

Krisenzeiten damals, Krisenzeiten heute, Dante-Lektüre lädt immer zu Gegenwartsvergleichen ein. Kritik an der Papstkirche, Häme über Prominente und Politikerschelte sind Allgemeingut geworden, oft zur Flachsatire verkommen. Die heutige Motzkultur in einer Gesellschaft kommerzkorrumpierter Werte hat jedoch mit Dantes Radikalität nichts gemein. Hier kritisiert einer, der sich das höchste Gut bewahrt hat, das ein Künstler haben kann, Unabhängigkeit. Man muss gar nicht bis zu „Charlie Hebdo“ denken bei der Frage, ob unsere demokratischen, hysterisch ideologisierten Gesellschaften einen Dante aushalten würden. Angenommen, eine Dichterin oder ein Dichter ließe mit Dantes Kriterien Herrn Juncker oder Frau Merkel, solide begründet und im Bernstein der Poesie, in der Hölle braten und leiden, was geschähe dann? Obwohl kaum noch jemand an die Hölle glaubt, wäre der allgemeine Konsens: Das geht zu weit!
Dabei kämen wir, wenn es nach Augustins Fundamentalismus und Dantes Moralismus ginge, alle in die Hölle. Sie wäre total überfüllt, das Paradies so gut wie leer. Jenseitssehnsucht kommt höchstens noch im Ernst des Sterbens auf. Vielleicht erschließt sich Agnostikern, die solche Sehnsüchte und Konstrukte nicht brauchen, am ehesten der tiefe Humor der Commedia. Das Attribut „göttlich“ fügte bekanntlich erst der weltliche Boccaccio hinzu.

Viele Frech- und Kühnheiten wären noch anzusprechen. Die folgenreichste können nur Italiener ermessen: Die Entscheidung, das Werk nicht in Latein, sondern in Volgare, der Volkssprache zu schreiben, und so, verkürzt gesagt, die italienische Sprache zu begründen.
Das danken ihm die Italiener bis heute. Ohne Dante keine Karriere. Mindestens ein Dutzend schwieriger Gesänge gehören zum Kanon, sind Lernstoff für Oberschüler (während manche deutsche Unbildungsminister Abiturienten nicht mal mehr den „Faust“ zumuten). Dante ist nicht nur ein Nationalheiliger, er ist präsent, populär, zitierfähig, gerade weil er so aktuell wirkt. Schon im ersten Gesang spricht er vom erniedrigten Italien, immer wieder beklagt er Italiens Misere in schönsten Versen.
Gerade die zwanzig Berlusconi-Jahre der gezielten Vertreibung und Verhöhnung der Anständigen, Verfassungstreuen, Gebildeten  kamen Dante-Lesern ziemlich bekannt vor. Berlusconi trat überdies als ein Antipode zu Augustinus und Dante auf, fast täglich verkündete er: Es gibt keine Sünde mehr! Es gibt keine Strafe mehr! Es gibt keine Schiedsrichter und keine Richter! Ich erlöse euch von allen Übeln!
Solche schäbigen Diesseitskonzepte erhöhen auf der anderen Seite die Attraktivität der Commedia mit ihrem Jenseitskonzept als Spiegel des Diesseits. In den Berlusconi-Jahren wurde Dante fast zum Massen-Autor, vor allem dank Roberto Benigni. Ich kann nur empfehlen, auf Youtube zu schauen und zu hören, wie Benigni in großen Sälen, auf großen Plätzen Dante sprechend lebendig macht. Ein Freudenfest der Sprache, ein Triumph der Poesie über Politik, Philosophie und, notabene, Theologie. Als wäre die Dichtung, als wäre die Kunst das einzig Konstante in einer taumelnden Welt.

(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.2015)

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