Friedrich Christian Delius, FCD

Christoph Meckel

Christoph Meckel: „Musterung“

Wie kann ein düsteres Gedicht aus den mittsechziger Jahren, das in der Sprache des Barock geschrieben ist, jetzt schon seit fast fünfzig Jahren zeitgemäß wirken? Durch seine Widerborstigkeit?

Als 1967 Christoph Meckels Gedichtband „Bei Lebzeiten zu singen“ im Verlag Klaus Wagenbach erschien, machte der Leser, der ich damals war, mit dem Bleistift im Inhaltsverzeichnis bei sieben Gedichten ein Kreuzchen, unter anderen bei diesem, „Musterung“ (Gedichttext im Kasten unten). Warum?, frage ich mich heute. Warum ein so düsteres, so rundum bitteres, so gar nicht erhellendes, erheiterndes, ermunterndes Gedicht? Was ließ einen vierundzwanzigjährigen Studenten hier innehalten, der gerade im selben Verlag ganz andere, eher lustig pointierte Lyrik vorgelegt hatte?

Und das in den munteren mittsechziger Jahren der blühenden Berliner Lachkultur, in den Zeiten der Aufbrüche und Horizonterweiterungen kurz vor der Studentenbewegung? Ein Gedicht wie „Musterung“ scheint da nicht hinzupassen. Doch es erinnert daran, wie stark das Gefühl damals auch bei jungen Leuten war, in einer Zwischenkriegszeit zu leben. Der Zweite Weltkrieg gerade mal gut zwanzig Jahre vorbei, die Mauer sechs Jahre alt, der Kalte Krieg stets gegenwärtig, auf den Bildschirmen neue Weltkriege in Asien, und da kommt ein Lyriker als Spielverderber daher und will nichts wissen vom Wirtschaftswunder und den Formeln vom friedlichen, freiheitlichen Westeuropa.

Gegensätze aushalten

Die Kriege stecken noch in den Körpern: „Dein Alter? Sieben Kriege und ein Überleben“, das „Geschrei im Klageofen“ ist nicht verstummt, die Särge sind offen, die Münder verbrannt, die Augen haben zu viel gesehen. Dem Dichter, dem Musikanten bleibt nur die Rolle, ausgestoßen, ungehört mit seinen Strophen durch die Welt zu ziehen. Auch das ein Topos: der unverstandene Außenseiter. Doch Meckel bedient nicht die bekannten Muster, weder die Klage selbstzufriedener Bohemiens noch schwarzromantisches Vanitas-Seufzen noch die kokette Arroganz (die sich, wie bei Arno Schmidt, marktstrategisch als die genialste erwies).

Nein, Meckels Gedicht ist deshalb so gelungen, weil es einen fernen Gryphius-Ton mühelos in die Gegenwart transponiert. Es spielt mit dem barocken Alexandriner, dem Vers mit sechshebigen Jamben und der Zäsur in der Mitte, wegen seiner antithetischen Natur besonders geeignet für Kontraste und Vergleiche und von Schiller als „die Regel des Gegensatzes“ beschrieben. Rhythmen und Reime dieser Zeilen lassen den Donner des Dreißigjährigen Krieges ebenso durchklingen wie das expressionistische Stakkato aus den Gemetzeln des Ersten Weltkriegs und den als Krieg getarnten Massenmord des Zweiten Weltkriegs. Kaum eine literarische Formensprache ist so illusionsresistent wie die des Barock, und Meckel bringt das Kunststück fertig, dass wir ihm diese Sprache als seine Sprache abnehmen.

Bildet euch bloß nichts darauf ein!

So unterwirft das Gedicht „Musterung“ auch seine Leser einer Musterung: bist du fähig, komplementär zu denken, die großen Gegensätze nicht zu verdrängen und auszuhalten, die tausend Kriege und Schlachten dieser Welt nicht zu vergessen auf den kleinen Inseln des poetischen, des feuilletonistischen Friedens? Und die armselige Rolle am Rande, die du dabei spielst oder spielen musst?

Ich will nicht behaupten, mein Bleistift wäre vor siebenundvierzig Jahren mit solchen Gedanken beschwert gewesen. Mir gefiel eher die Widerborstigkeit: Weil das Gedicht so ungemütlich, weil es nicht besonders literaturbetriebskompatibel ist, damals so wenig wie heute. Tauglich weder als Lieblingsgedicht noch als Lesebuchgedicht noch als Anthologie-Hit noch als Hymne der singenden Außenseiter. Es schmeichelt nicht der einen oder anderen Seelenlage. Mit jeder Zeile höhnt es gegen Illusionen: Frieden, Heimat, Ruhe, Kunst – bildet euch bloß nichts darauf ein! Und der junge Dichter, der das Gedicht des nur acht Jahre älteren jungen Dichters mit einem Pluspunkt versah, wird daraus auch die Haltung bezogen haben: Bild dir nichts ein auf deine kleinen Erfolge, die Frage ist, ob du am Ende, was immer dir noch einfällt im Leben, bereit bist, deine „Leierkiste“ durch eine „taube Hölle“ zu ziehen. Das Gedicht als barockes Worst-case-Szenario, brauchbar seit 1967.

Christoph Meckel: „Musterung“

Wie kamst du in die Welt? Ein Mensch, geboren,
mir schlug die schöne Welt den Himmel um die Ohren.
Dein Alter? Sieben Kriege und ein Überleben.
Leibgröße? Wie ein Sarg, der allen Völkern Platz kann geben.
Dein Herz? Ein Muskel, der kaut eine Kälte.
Dein Mund? Ich hab ihn mir verbrannt mit Strophen.
Die Augen? Sahen oft, wie sich die Nacht erhellte.
Die Ohren? Hörten oft Geschrei im Klageofen.
Was hast du vor? Noch einmal überleben
und sagen: diese Mähre haben wir geritten
wir wollen ihr ein bessres Futter geben
und um ein neues Zaumzeug bitten.
Wie heißt dein Land? Es heißt nicht; nicht vorhanden.
Ein faules Nichts, umstellt von Draht und Wänden.
Und dein Zuhaus? Ein Fluchtweg allerlanden
ein Hohelied, zu singen allerenden.
Wie kann ein Mensch so reden – streicht ihn von der Liste!
Du taugst als Musikant nur an nutzloser Stelle –
Gewiß – ich spann mich selber vor die Leierkiste
und zieh sie pfeifend durch die taube Hölle.

(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.03.2015)

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