Friedrich Christian Delius, FCD

Buch: Tanz durch die Stadt

Cover_delius_tanz Tanz durch die Stadt
Aus meinem Berlin-Album

Zusammengestellt von Rainer Nitsche
Mit Fotos von Renate von Mangoldt

Transit Verlag, 128 Seiten, gebunden
€ 16,80 (D) / € 17,30 (A) / CHF 23,70
ISBN 978-3-88747-309-9

 

Seit 1963 lebt der Schriftsteller F.C. Delius in Berlin (unterbrochen durch längere Aufenthalte in London, Bielefeld, Nijmwegen, in den USA und immer wieder Rom). Kein Wunder also, dass diese Stadt ihn in all ihren Facetten immer wieder gelockt, provoziert oder inspiriert hat. In seinen Gedichten, polemischen Texten, Romanen, heiteren Loboder Widerreden ist Berlin immer wieder Thema – wie dieses Album, zusammengestellt von Rainer Nitsche, aufs Schönste beweist. Dabei ist das Atmosphärische immer das Wichtigste (und am schwersten zu Beschreibende): die Mischung aus Endzeitstimmung und Abenteuerlust in den sechziger Jahren, die Fronten im Kalten Krieg zwischen Ost- und West-Berlin, zwischen utopischen Aufbrüchen und verbiestertem Festhalten am Gewohnten, die Kultivierung des Inseldaseins, die Euphorie nach 1989, der rasante Sprung ins neue Jahrtausend und die manchmal ernüchternde Landung danach.
Den unverwechselbaren Reiz seiner Beobachtungen machen immer die Widersprüche aus: die Gleichzeitigkeit von internationalen politischen Krisen und Vorort-Idyllen, von Maulheldentum und Ängstlichkeit, von Ruinen und glänzenden Fassaden, von weltstädtischer Toleranz und bellender Kleinkariertheit. Und all das in witzigen, ironischen (auch selbstironischen) und pointierten Formulierungen, die sich mit Freuden dem gängigen Bild von Berlin damals wie heute entziehen.

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Pressestimmen

“Ich hab’ die Mauer am Hals!”

Dieser Ausspruch einer Vermieterin stammt aus der titelgebenden Kurzerzählung “Tanz durch die Stadt”. Er trifft die Stimmung, die in Westberlin herrschte, als Friedrich Christian Delius 1963 in die Stadt kam. Alle Welt litt damals mit den Bewohnern, mit den Eingesperrten und ihrem geteilten Himmel. Westberlin war eine Inselstadt, die dank der “Zitterprämie”, – also mittels Subventionen und Steuererleichterungen – als Schaufenster des Westens lebendig gehalten wurde. In Berlin brauchte man nicht zur Bundeswehr, in Berlin gab es keine Sperrstunde, und die Berliner gingen auch gerne mal bei Rot über die Ampel. Hier begegneten sich Kriegsüberlebende, Nachkriegsverlierer und Politkünstler, aber auch die wahren Künstler aus aller Welt.

1965 bereits erschien Delius erster Gedichtband mit dem Titel “Kerbholz”. Viele Bücher folgten seither, Romane, Gedichtbände, Halbfiktionales. Längst hat er zahllose Preise erhalten, zuletzt den Georg Büchner Preis. In dem Buch “Tanz durch die Stadt” nun hat er zu seinem 50-jährigen Ankommen Berlin-Schilderungen aus seinem Werk zusammengetragen – auch aus Zeitungsartikeln und privaten Notizen. So als Album collagiert, skizzieren sie ein eigenwilliges Porträt der Stadt, 50 Jahre Impressionen und Momentaufnahmen, aus der Zeit des Kalten Krieges, der linken Abenteuerlust, dem Inselkult, dem Vereinigungsaufbruch nach 1989 und dem, was daraus hervorgegangen ist. Stadtansichten der Fotografin Renate von Mangoldt aus den 1970er-Jahren begleiten das Album.

FC Delius kam 1963 als “Flüchtling”

Der Autor, FC Delius, wie er meist genannt wird, zählt mit Titeln wie “Unsere Siemenswelt”, “Der Bankier auf der Flucht” oder “Mein Jahr als Mörder” zu den bedeutendsten Schriftstellern und Chronisten der Bundesrepublik. Im Herzen ist er ein kritischer 68er; er weiß, in welchem Ausmaß gerade Berlin ihn geprägt hat, nicht nur in seinen Romanen und Gedichten. Die Republik seiner Schriften hat einen Adenauer und Brandt aber auch eine Rote Armee Fraktion und einen Papst hervorgebracht und schon im Alter von nur fünf Jahren einen Fußball-Weltmeister.

FC Delius kam 1963 als Flüchtling, wenn man so will, glücklich entronnen den “Häusern der Gebete und Gebote”, wie er die Enge der Provinz und des elterlichen Pfarrhauses einmal beschrieb. In der ersten Geschichte des Albums schlängelt sich der Neuankömmling eine ganze Seite lang in einem einzigen Satz vom Hessischen, wo er aufwuchs, durch die düstere DDR in das reklame-leuchtende West-Berlin. Das Tempo des Satzes ist bestimmt von den Stop-and-gos der damaligen Interzonenzüge und von der Trostlosigkeit der Grenzpassagen.

So skurill und treffend die Szenen auch sind – der “Tanz durch die Stadt” erzeugte, auch davon erzählt Delius, immer wieder Drehschwindel – der Mauer wegen, welche die ganze Stadt damals am Hals hatte.

Die Verrücktheiten der Stadt

Delius gehört zu den Stillen, Hartnäckigen. Präzision und Lakonie prägen sein gesamtes Werk und auch diesen Band. Das Vergnügliche an dem Buch, sei, so der Verleger Rainer Nitsche, dass Delius darin die Verrücktheiten und Zumutungen der Stadt besichtige. Die City-Toilette, die einmal ein Kiosk war, die Trümmerfrau, die während der Neueröffnung einer Delikatessenabteilung verhaftet wird, die magische Anziehung des Gendarmenmarktes. Im Oktober 1998, damals war Berlin seit drei Jahren Hauptstadt, notierte der Autor:

“Kann eine Stadt, in der orthodoxe Juden mitten auf dem Kurfürstendamm angepöbelt werden, eine Stadt, die nicht einmal mit dem Problem der Hundescheiße fertig wird und die es zulässt, dass ein einziger CDU-Husar eine ganze große Koalition am Gängelband hält, kann eine solche, überdies politisch geteilte Stadt zum Zentrum einer modernen Republik werden?

Delius Engführungen sind immer konkret. Man spürt, riecht, hört nicht nur das heutige Berlin, sondern auch das West-Berlin der Vergangenheit – den Geruch der Kohleöfen zum Beispiel oder den Mief des möblierten Zimmers in Berlin Steglitz. Der Kachelofen, in den abends die in nasses Zeitungspapier eingewickelten Bricketts geschoben wurden, evozierte bei ihm einerseits Assoziationen zur deutschen Geschichte (“Die Deutschen und ihre Öfen”), andererseits Gedanken zur Vereinigung von Ost und West (die Kohle kamen aus der DDR, die Zeitungen aus dem Westen). Nebenbei begegnet man auch den romantisierenden Armutsbildern der Zeit – zum Beispiel in dem Gedicht “Kreuzberg”.

“Den Atem des Säufers
klaut sich der Wind
und hisst ihn über
der nüchternen Stadt.”

Mit seinem trockenen Humor kann Delius vieles aufs Zauberhafteste kombinieren. So schlendert er in dem Fragment “Bald bricht der Flieder los” Ende der 1990er-Jahre durch den Tiergarten, betrachtet die Spuren der Geschichte und ruft sich dabei seine ganz private Love Parade in Erinnerung – all die Frauen nämlich, mit denen er einst dort säuselte oder unter den Büschen lag. In einzelnen Texten schimmert auf, welche Kraft es diese Generation gekostet haben muss, sich bei ihrer Flucht – auch selbst – der geballten Normativität zu entwinden, an die sich ihre Eltern nach dem 2. Weltkrieg so verzweifelt klammerten. Es wundert deshalb nicht, dass es auch bei ihm zum Thema deutsche Vergangenheit mitunter humorfrei und vorwurfssatt zugeht. Die “Geht doch nach drüben”-Rufe allerdings, die viele der Demonstranten im Berlin der 1968er-Zeit zu hören bekamen, hat Delius beim Wort genommen, Grenzschlangen porträtiert und Besuche bei Schriftstellern im Ostteil geschildert.

Maulhelden und Fahrradfahrer

Die das Album begleitenden Stadt-Fotografien Renate von Mangoldts ergänzen das Porträt. Eine Rückbesichtigung. Man sieht eine Curry-Bude, die längst demontierte “Sende- und Lauschzentrale” auf dem Teufelsberg, eine Aussichtsplattform vor der Mauer sowie einen Seiltänzer hoch in den Lüften der Gedächtniskirche. Ganz am Ende erst erfährt der Leser, wen Delius als wahren Adressaten dieses Buches im Kopf hat. Das sind nicht wir, die Leser von heute, sondern es ist ein einziger Leser, und er ist von Morgen: Der Radfahrer nämlich, der ihn eines Tages, so glaubt Delius, totfahren wird. Ein herrlicher Einfall. Jeder in Berlin kennt die aus Überlebensangst in Aggression umgekippte Selbstgerechtigkeit so mancher Berliner Fahrradfahrer, die immer noch entfernt an die Überlebensstrategien der alten Westberliner erinnert. Angst und Maulheldentum gemischt. Ob Schreiben je etwas geholfen hat, ist unklar? Delius jedenfalls glaubt probeweise daran und hofft, seine skizzenhaft entworfene Liebeserklärung an das alte und das neue Berlin möge ihn unverwundbar machen.

Marie Luise Knott
(Deutschlandfunk Büchermarkt / Beitrag vom 24.02.2015)

 

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