Friedrich Christian Delius, FCD

Essay Irrtümer

Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer
Ein Leitfaden für deutsches Denken

Originalausgabe
160 S., HC
€ 16,90 / sFr 30,10
ISBN 978-3-87134-466-4

Rowohlt E-Book
€ 14,99
ISBN 978-3-644-11261-2

 

Von A (wie Achtundsechzig) bis Z (wie Zeiten, gute) führt Friedrich Christian Delius’ kleiner lexikalischer Leitfaden. Hier finden sich Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart: Wo bleibt der Roman zur deutschen Einheit? Sind Steuerzahler Anarchisten? Warum wird Deutschland kleiner? Wem nützt die Literatur? Wie funktioniert der Hitlertest? Warum Preußen? Wer war Helmut Horten? Was ist der Unterschied zwischen dem deutschen und dem italienischen Fußball?

Einer der klügsten und vielseitigsten deutschsprachigen Schriftsteller fügt vermischte Texte aus 30 Jahren zu einem Wörterbuch ganz eigener Art – eine unterhaltsame literarisch-politische Zeitlese. Ganz nebenbei entsteht das Porträt einer Generation, die einst keinem über dreißig traute und heute mit Vergnügen sechzig wird.

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Pressestimmen:

Zweifel, Liebe, Hoffnung

F. C. Delius’ Leitfaden für deutsches Denken

Zwischen „Wäldern und Fachwerkhäusern, Bücherregalen und Fußballplatz“ sei er aufgewachsen, schreibt Delius in seinem neuen Buch, und schon als Kind habe er „Dichter“ werden wollen: eine deutsche Biografie. Wälder und Ökologie, Fachwerkhäuser und Geschichte, Bücherregale und Literatur, Fußballplatz und Fritz-Walter-Mythos – das sind bestimmende Themen geblieben im Leben des kürzlich 60 Jahre alt gewordenen Essayisten und Romanciers F.C. Delius. Nomen est omen: Nicht nur Geburts-, auch Namensadel verpflichtet. Delius, so steht es in den lateinischen Wörterbüchern, bedeutet vates, deus Apollo und leitet sich vom griechischen delos her. Das ist der Geburtsort Apollons, jenes Gottes, der auf dem Parnassos die Musen anführt. Vates, Sänger und Seher, zu sein, ist in pluralistischen Zeiten kein leichtes Geschäft, schon gar nicht, wenn im Schrecken von Wirtschaftskrisen, Terrorismus und Krieg die Musen zu verstummen drohen. Aber Apollon ist ein mächtiger Gott, der sich noch immer behauptet hat, und seine Anhänger sind nicht so leicht zum Schweigen zu bringen. In Rom, gleichsam im Schatten des Apollotempels, wurde Delius geboren, und Rom hat er inzwischen als Lieblingsstadt entdeckt und zum zweiten Wohnsitz gewählt.

Dem Leitfaden ist die zeitweilige örtliche Distanz seines Verfassers zu deutschen Verhältnissen gut bekommen. Delius hat essayistische Kurztexte zusammengestellt, die er im Lauf der Jahre in Magazinen und Journalen – unter anderem in der ZEIT – veröffentlichte: Satiren, Polemiken, Stellungnahmen, Erinnerungen und Reflexionen. Er hat die Sammlung nach Stichwörtern alphabetisch geordnet, und so ist der Band zur kleinen Enzyklopädie deutscher Sonderbarkeiten und Fehlentwicklungen geworden, aber auch zu einer Anthologie von Kommentaren, in denen die Arbeiten von Kollegen gewürdigt werden.

An der „fast neurotischen Unfähigkeit zu loben“, die er dem deutschen Feuilleton anlastet, krankt Delius selbst nicht. Alfred Döblin sei ein Autor, der „Zerrissenheiten“ und „Widersprüche nicht geleugnet“ habe, ein Erzähler, dessen Werk in keine germanistische Schublade passe. Gerade weil der „für Ideologen unbrauchbare“ Döblin nicht Schule gemacht habe, könne man von ihm lernen. Die Erinnerungen an Heiner Müller, den Delius als junger Verleger im Westen publizierte, gehören zu den schönsten Anekdoten im Buch. Delius schmuggelte in den siebziger Jahren die Texte des bewunderten Dramatikers und Whiskytrinkers vom Osten in den Westen Berlins. So habe „das dünne Papier der Manuskripte jedes Mal etwas Rückenschweiß“ abbekommen. Vorbildlich findet er auch Wolfgang Koeppens Romane Das Treibhaus und Der Tod in Rom. Vergleichbar stark ist offenbar Heinar Kipphardts Einfluss auf ihn gewesen. Der habe sich emphatisch zur Schreib- und Leselust bekannt, weil beide Passionen gegen geistige Unterwerfung immunisierten. Mit dem Lob der Väter taten sich die 68er-Autoren bekanntlich schwer, aber bei Walter Höllerer machten sie eine Ausnahme. Während der frühen sechziger Jahre, berichtet Delius, sei er sich als Germanistikstudent an der Freien Universität Berlin verloren und verlassen vorgekommen. Im Höllerer-Seminar dagegen – an Berlins Technischer Universität – hätten er und seine Kommilitonen zum ersten Mal das Gefühl gehabt, „erwünscht und willkommen“ zu sein. Höllerer habe ihnen auch gezeigt, dass es in der literarischen Werkstatt nicht bloß um das „Was“, sondern auch um das „Wie“, um Technik, Struktur und Machart gehe. Wenn Delius auf Nicolas Born zu sprechen kommt, mischt sich Trauer in die Erinnerung. Der nur fünf Jahre ältere Born starb 1979 mit 42 Jahren. Er sei der begabteste unter den zeitkritischen Autoren gewesen. Romane von der Qualität der Fälschung fehlten heute, und Delius ist sicher, dass Born nicht aufgehört hätte, „uns weitere Fälschungen vorzuhalten“. Die Lektüre dieser Autoren – hinzu kommen Albert Camus, Umberto Eco, Milan Kundera, Salman Rushdie, Julio Cortázar, Carlos Fuentes – habe ihn von der produktiven Kraft des Zweifels überzeugt. „Wir Schreibenden leben vom Zweifel“ ist Delius’ Credo. Schon früh identifizierte er sich mit Friedrich Schlegels These: „Jeder Satz, jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht, ist unvollständig.“ Beim Schriftsteller müssten Kritik und Zweifel durch den „universellen Blick auf die Menschen“ ergänzt werden. Das ist ein altes Postulat, das in den Ästhetiken so oder ähnlich immer wieder auftaucht. Vielleicht hat Apollon seinen Schützlingen ja tatsächlich den olympischen Blick geschenkt. Bei allem Selbstbewusstsein ist Delius die überhebliche Dichter-als-Führer-Ideologie fremd. Schon der Titel des neuen Buches spielt selbstironisch auf die „Irrtümer“ an, die in den zeitkritischen Analysen stecken.

Schriftsteller wären keine Intellektuellen, wenn sie nicht warnten, tadelten, klagten. An provokativem Elan hat es in Delius’ Büchern nie gefehlt. Wie in früheren Texten werden auch hier Missstände benannt, die in der bundesrepublikanischen Gesellschaft Anlass gaben zu Skepsis und Ärger, Unbehagen und Polemik, Depression und Revolte. Zu den Delius-Themen gehören: Arbeitslosigkeit und Globalisierung, Nazimentalität und Ausländerhass, Weltmeisterglaube und Korruption, Preußen-Nostalgie und ökonomische Ersatzreligion, Historikerstreit und Walser-/Bubis-Debatte, 68er-Generation und RAF, Fernsehen und neue Medien, Wiedervereinigung und Einheitsgewinnler.

Was internationale Entwicklungen betrifft, ist Delius ein illusionsloser Kommentator der europäischen Erweiterung, der Situation der so genannten Dritte-Welt-Länder und des 11. September. „Der Terror entwertet das Denken, Differenzieren und Schreiben, der Krieg ebenso“, heißt es an einer Stelle. Dort zitiert er die Anfangs- und Schlusszeile „Es kommen härtere Tage“ aus Ingeborg Bachmanns Gedicht Die gestundete Zeit.

Delius gehört nicht zur „Jammerfraktion“ der deutschen Intellektuellen, und seinen Humor hat er nicht verloren. Eine ganze Reihe von Paradoxa sind wie diskursive Stolpersteine in den Leitfaden eingebaut. Einige Beispiele: „Die Berliner Türken werden vielleicht die letzten Preußen sein“; „Deutschland ist mit der Vereinigung kleiner, enger geworden“; „Die neue Grenzenlosigkeit produziert immer härtere Grenzen“; „Je reicher wir werden, desto mehr Verwahrlosung“; „Die technischen Bilder erleichtern alle Versuche, die Zuschauer mit Blindheit zu schlagen“. Gut, dass es Kritiker gibt, die gegen „Gewissheitslümmel“ opponieren und sich zur Maxime „Zweifel, Liebe, Hoffnung“ bekennen. Apollon sei mit ihnen.

(Paul Michael Lützeler, Die Zeit, Nr. 43, 16.10.2003)

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Grundlagenforschungs-ABC

F. C. Delius schnüffelt famos nach deutschen Irrtümern

Drei Farben können ja so unterschiedlich leuchten, einleuchten, heimleuchten. Nehmen wir einmal die ehrwürdige Nationalflagge, von der einst die Nationalsozialisten abfällig als “Schwarz, rot, Hühnerkacke” sprachen, republikbegeisterte Kämpfer aber fröhlich sangen: “Pulver ist schwarz, Blut ist rot, golden flackert die Flamme”. Auf einem deutschen Buchumschlag wirkt das Trikolorische leicht lächerlich oder missverständlich oder gar nationalistisch. Wenn man aber etwas vom Handwerk und als Hersteller sogar den Inhalt versteht, dann kann daraus ein schillerndes Farbenspiel werden: mit fließenden und harten Übergängen, mit quer zur Leserichtung geprägter Schrift. Und das schwarze Lesebändchen? Soll es signalisieren, Trauer sei der rote Faden in Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer. Ein Leitfaden für deutsches Denken von Friedrich Christian Delius? Mit diesem Lob des Herstellers habe ich bereits die Gefahr gebannt, von einem Stichwort getroffen zu werden, welches der Autor als eine Art von Abwehrzauber in sein Abecedarium – Efcedelium? – eingestreut hat: Es heißt “Unfähigkeit zu loben”. Die darin angestimmte Klage klingt nicht neu: “In keinem Land, das ich kenne, sind Selbsthass, Missgunst, Masochismus und intellektuelle Zerstörungswut so entwickelt wie hier – gerade nach einem längeren Aufenthalt in den USA merkt man das doppelt und dreifach. (…) In den oberen Etagen Beißen und Treten, in den unteren kindisches Jammern. Merkt noch jemand, was uns verlorengeht?” Natürlich könnte ich und manch anderer.

Was der soeben sechzig Gewordene hier an Artikeln und Artikelchen in alphabetischer Anordnung auf das Leserhirn loslässt, ist eine kleine Denkmaschine, die schon mit den ersten Stichwörter munter zu schnurren beginnt: “Achtundsechziger”, “Afrika”, “Allgemeinplätze”, “Amerikahaus” und so fort bis “Zweifel”. Spuren der Tagesaktualität tilgte Delius in den Texten, so dass sie – wiewohl sie ihre Aktualität oft leider nicht verloren haben – direkt hineinwerfen in 35 Jahre Skandale und Debatten von “Berlusconi, Silvio” bis “Tschernobyl”.

Dem Buch fehlt es nicht an Überraschungen, wenn man beispielsweise unter “Anarchisten” etwas über die gewinnreichen “Verlustmacher” findet, die mit Abschreibungskunststücken dem Gemeinwohl nicht nur nichts mehr geben, sondern von ihm sogar profitieren, so dass Delius aufstöhnt: “Ist das ,Sozialneid’, ist das ,kulturkritisch’ oder ,populistisch’, wenn man sagt: Der Grund für die Verwahrlosung Deutschlands liegt im Reichtum der Deutschen?” Auch unter dem Rubrum “Grundlagenforschung” vertieft sich Delius nicht in Quarks oder wirft sich gar in den intelligenten Staub der Nanoforschung, vielmehr plädiert er darin für die Literatur und ihre imprägnierende Kraft.

Offensichtlich leidet er nicht immer unter “Selbstunterschätzung”, auch wenn er sich bei der Erläuterung dieses Stichworts einschließt: “Es sind wir selber, die in der Nörgelecke stehen und immer seltener Begeisterung und Spaß an dem Metier zeigen, in dem und von dem wir leben. Wir leiden an kollektiver Selbstunterschätzung, die viel mit der kollektiven Faulheit der intellektuellen Zunft und der ständigen Suche nach Ausreden zu tun hat.” Und dann bricht er noch eine Lanze für das alte Konzept des universellen Intellektuellen: “… wir sind (mit einigen Filmern und Theaterleuten) die einzigen, die über einen universellen, nicht fachspezifischen Blick auf die Menschen verfügen.”
Ruft sich Delius hier selbst Mut zu, verrennt er sich gar in eine Art von ethisch-engagiertem Optimismus, der im Geisteskämpfer einen Zorro mit eleganter Sprachklinge sieht, dem nur ein wenig (Selbst-)Zuspruch fehlt, um die Reichen, die Dummdreisten, die Korrupten und die Verlogenen zu zeichnen und zu verjagen? Aber nein! Dem Buch mangelt es nicht an internem Widerspruch, nicht nur in den Stichwörtern “Irrtümer” oder “Zweifel”. Letzterem hat sich Delius mit Friedrich Schlegels Wort verschrieben: “Jeder Satz, jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht, ist unvollständig.”
Hier mischt sich ständig ein Advocatus Diaboli ein. Schließlich hält Delius es mit der Wahrheit wie Mephisto mit der Frau: “Ich sage Frauen; denn ein für allemal / denk’ ich die Schönen im Plural.” Statt über die Achtundsechziger zu reden, fordert Delius also, deren widerstreitende Bewegungen zur Kenntnis zu nehmen, ihre komischen Seiten, ihre Viel- und Fehlfarbigkeit, die von den immer gleichen Schlagworten und den immer gleichen Zeitzeugen zugedeckt würden.

Angelsächsischen wie französischen Traditionen fühlt sich Delius verbunden und schämt sich nicht, dafür zu werben. Deshalb siegt in diesem Buch der Ernst intellektuellen Einspruchs nicht über Eleganz und Heiterkeit, deshalb vergisst Delius über den “Oszönitäten des Alltags” nicht die Freuden (“Einheitsgewinnler”) und die Freunde (wie “Born, Nicolas” und “Koeppen, Wolfgang”), und deshalb wirkt dies Flagge-Zeigen nicht peinlich oder verbissen, sondern widersprüchlich und damit denkanstößig.

(Rolf-Bernhard Essig, Frankfurter Rundschau, 19.2.2003)

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Schnee von morgen

F.C. Delius offeriert einen “Leitfaden für deutsches Denken”

Miniaturen zwischen Aphorismus und Essay – eine Literaturgattung, die zwischen Buchdeckeln meist verlorener ist als im Feuilleton einer Zeitung: Gelegenheitsarbeiten von F.C. Delius, dem Weltmeister der Beschreibung eines deutschen Frühlings, erschienen unter dem selbstironischen Titel “Warum ich schon immer recht hatte – und andere Irrtümer”. Der Untertitel “Ein Leitfaden für deutsches Denken” suggeriert Unbescheidenheit, entpuppt sich aber als harmloser Druckfehler: es sollte “Leidfaden” heißen. Die von der Pisa-Diskussion abgelöste “Deutsche Leitkultur” hatte Pate bei der Fehlleistung gestanden.
F.C. Delius leidet am deutschen Wesen, und wir alle haben uns ihm längst angeschlossen. In der etwas willkürlich dem Alphabet gehorchenden Anordnung der Gedanken des Chronisten finden wir unter “R” wie Republik ein eher defensives Bekenntnis zu den republikanischen Formeln/Forderungen von 1789. Und ausgerechnet einer Monarchin, der im alten Preußen und im neuen Berlin so verehren Königin Luise, bescheinigt Delius, eine Ausnahmegestalt gewesen zu sein: “Luises Erotik und der preußische Militarismus – ein größerer Gegensatz ist schwer denkbar. Sie stellt, wenigstens für 17 Jahre, einmal das Gleichgewicht zwischen Eros und Thanatos her.” Das hat so knapp vor Delius keiner gesagt.
Ans Eingemachte geht der Autor unter dem Stichwort “Pazifismus”, wenn er historisch richtig formuliert: “Auch die Freiheit, pazifistisch zu sein, verdanken wir einem Krieg.”
Nach dem 11. September fragt Delius besorgt, ob die “härteren Tage” nicht nur “das Denken uniformieren und globalisieren, die Sprache entdifferenzieren und globalisieren. Die feinen Untertöne, die kritische Befragung und die lebensnotwendigen Ausflüge in den Humor, wird das zum Luxus von gestern?” Er selbst leistet sich diesen Luxus, und wir lesen sein Bekenntnis gern. “In Berlin, in der Mitte zwischen Kiew und Key West, darf ich mir leisten zu sagen: Ohne Schnee von gestern kein Frühling, keine Fruchtbarkeit. Und weiterarbeiten am Schnee von morgen.”
Diese Arbeit ist notwendig. Sie wird uns in einem leichten Büchlein präsentiert, das aufzuschlagen nicht mehr erfordert, als die alten, oft verlogeneren Kalendersprüche zu lesen. Wir sollten es nicht unter “D” in die Ablage stellen, sondern griffbereit liegen haben: F.C. Delius spendet Nachdenken, und das tut mehr Not als Trost.

(Harald Loch, Nürnberger Nachrichten, 17.4.2003)

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